Das Ungeheuer
ihm herausbekommen können?«
Mrs. Zinnzer formte ein Zelt mit den Fingern und lehnte sich in ihren Sessel zurück. Dann räusperte sie sich. »Ich sah David mehrere Male«, begann sie. »Nachdem ich mich ausführlich mit ihm unterhalten hatte, kam ich zu der Überzeugung, daß David den Schutzmechanismus der Projektion benutzte. Ich hatte das Empfinden, daß David seine eigenen Gefühle von Konkurrenz und Feindseligkeit auf VJ projizierte.«
»Dann war die Bedrohung also nicht spezifisch?« fragte Marsha.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Mrs. Zinnzer. »Es hatte offenbar eine spezifische Drohung gegeben.«
»Worum ging es dabei?«
»Typischer Jungenkram«, sagte Mrs. Zinnzer. »Irgendwas mit einem Versteck, das VJ hatte und das David entdeckte. Jedenfalls irgendwas Harmloses in der Art.«
»Kann es statt eines Verstecks auch ein Labor gewesen sein?« fragte Marsha.
»Schon möglich«, antwortete Mrs. Zinnzer. »Kann sein, daß David >Labor< gesagt hat; in meinen Unterlagen steht jedenfalls >Versteck<.«
»Haben Sie jemals mit VJ gesprochen?« wollte Marsha wissen.
»Ja, einmal«, sagte Mrs. Zinnzer. »Ich dachte, es wäre vielleicht hilfreich, mir ein genaueres Bild über die Beziehung zwischen den beiden zu verschaffen, indem ich mir die andere Seite auch einmal anhörte. VJ war äußerst offen und geradeheraus. Er sagte mir, sein Bruder David sei auf ihn eifersüchtig gewesen von dem Tag an, als er aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war.« Mrs. Zinnzer lachte plötzlich. »VJ erzählte mir, er könne sich noch genau erinnern, wie er nach seiner Geburt nach Hause gekommen sei. Das amüsierte mich einigermaßen.«
»Hat David jemals gesagt, um was für eine Bedrohung es sich handle?«
»O ja«, antwortete Mrs. Zinnzer. »David sagte mir, VJ hätte ihm gedroht, ihn zu töten.«
Von der Pendieton Academy fuhr Marsha auf direktem Wege nach Boston. Sosehr sie sich auch davor grauste, die einzelnen Teile des Puzzles zusammenzufügen, sie wußte, sie mußte es tun, wenn sie die Wahrheit über VJ wissen wollte. Sie versuchte, sich fortwährend einzureden, daß alles, was sie herausfand, letzten Endes vielleicht doch nur Zufälle waren, daß sich alles schon irgendwie als letztlich harmlos entpuppen würde. Sie hatte schon ein Kind verloren. Gleichwohl wußte sie, sie würde keine Ruhe finden, bis sie die ganze Wahrheit herausgefunden hatte.
Marsha hatte ihre Assistentenzeit am Massachusetts General Hospital verbracht. Ein Besuch dort war, als komme sie nach Hause. Aber sie ging nicht in die Psychiatrie. Sie begab sich schnurstracks in die Pathologie und fand dort einen Oberarzt vor, Dr. Preston Gordon.
»Aber sicher kann ich das«, sagte Dr. Gordon. »Da Sie das Geburtsdatum nicht wissen, wird's ein bißchen dauern, doch im Moment gibt's hier sowieso nichts zu tun.«
Marsha folgte Dr. Gordon ins Zentrum der Pathologischen Abteilung, wo sie sich gemeinsam an einen der Krankenhauscomputer setzten. Es waren mehrere Raymond Cavendishs im System gespeichert, aber da Marsha das ungefähre Todesjahr bekannt war, hatten sie keine Schwierigkeit, rasch den richtigen Raymond Cavendish aus Boxford, Massachusetts, zu finden.
»Okay«, sagte Dr. Gordon. »Hier kommt die Krankenakte.« Der Bildschirm füllte sich mit Daten. Dr. Gordon ließ die Seiten durchlaufen. »Hier hätten wir die Biopsie«, sagte er. »Und hier ist die Diagnose: Leber-Ca der Kupferschen Zellen retikuloendothelialen Ursprungs.« Dr. Gordon stieß einen Pfiff aus. »Also, das ist ja ein echtes Zebra! Das hab' ich ja noch nie gehört.«
»Können Sie mir sagen, ob in diesem Krankenhaus schon einmal ähnliche Fälle behandelt wurden?« fragte Marsha.
Dr. Gordon tippte ein paar Tasten auf dem Keyboard des Computers und begann zu suchen. Es dauerte nur ein paar Minuten, dann hatte er die Antwort. Ein Name erschien auf dem Bildschirm. »Es hat erst einen anderen Fall dieser Art in diesem Krankenhaus gegeben«, sagte er. »Der Name der Patientin war Janice Fay.«
Victor suchte sich in seinem Autoradio einen Sender, der Oldies spielte, und sang fröhlich mit bei einer Reihe von Hits aus den späten Fünfzigern, einer Zeit, in der er auf der High-School gewesen war. Er war in großartiger Stimmung. Er hatte den ganzen Tag damit verbracht, sich von VJ die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit in dem geheimen Kellerlaboratorium zeigen zu lassen. Was er gesehen hatte, hatte ihn völlig fasziniert und in Bann geschlagen. Es war genauso
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