Das Ungeheuer
wieder wegwischen können. VJ schien so ein perfektes Kind zu sein. Aber jetzt äußerte Marsha ebensolche Zweifel und untermauerte sie noch, so daß sie eine Art von beunruhigendem Sinn ergaben. Konnte derselbe kleine Junge, der ihn so stolz durch sein Labor geführt hatte, das Genie, das hinter dem neuen Implantationsverfahren steckte, auch hinter anderen, unaussprechlichen Dingen stecken? Hinter dem Mord an den Kindern, an Janice Fay, an seinem eigenen Sohn David? Victor weigerte sich, den Gedanken zu Ende zu denken. Die Vorstellung war zu grauenhaft. Nein, nein, das war unmöglich. Jemand im Labor hatte die Kinder getötet. Jawohl, so war es. Die anderen Todesfälle mußten Zufall gewesen sein. Es gab solche Zufälle. Marsha trieb die Sache wirklich zu weit. Nun ja, sie war eben ein wenig hysterisch, seit die Kinder von Hobbs und Murray gestorben waren. Aber wenn ihre Befürchtungen berechtigt waren, was würde er dann machen? Wie konnte er dann noch fröhlich VJ in seinen zahlreichen wissenschaftlichen Anstrengungen unterstützen? Und wenn es stimmte, wenn VJ wirklich halb Wunderkind, halb Monstrum war, was sagte das über ihn aus, seinen Schöpfer?
Marsha hätte ihn vielleicht noch weiter bedrängt, wäre nicht in diesem Moment VJ nach Hause gekommen. Er kam genauso herein wie eine Woche zuvor am Sonntag abend, die Satteltaschen über die Schulter geworfen. Es war, als hätte er gewußt, worüber sie gesprochen hatten. VJ starrte Marsha an; seine blauen Augen waren kälter als je zuvor. Marsha überlief ein Schauer. Sie vermochte seinen Blick nicht zu erwidern. Ihre Angst vor ihm steigerte sich immer mehr.
Victor schritt in seinem Arbeitszimmer auf und ab, geistesabwesend auf dem Ende eines Bleistifts kauend. Die Tür war zu, und im Haus herrschte Stille. Soweit er wußte, lagen alle längst im Bett. Es war ein bedrückender Abend gewesen. Marsha hatte sich ins Schlafzimmer zurückgezogen, als Victor sich standhaft geweigert hatte, weiter mit ihr über VJ zu diskutieren.
Victor hatte eigentlich vorgehabt, die Nacht damit zu verbringen, seinen Bericht für die Präsentation der neuen Implantationsmethode für die Verwaltungsratssitzung am Mittwoch auszuarbeiten. Aber er vermochte sich einfach nicht zu konzentrieren. Marshas Worte nagten in ihm. Er konnte versuchen, was er wollte, er kriegte sie einfach nicht aus dem Kopf. Was hieß das schon, wenn VJ David gedroht hatte? So was passierte schon einmal unter Jungen, das war doch ganz normal.
Aber der Gedanke, daß noch ein weiterer Fall dieses seltenen Leberkrebses aufgetreten war, beunruhigte ihn, besonders im Licht der Tatsache, daß sowohl Janices als auch Davids Tumor jenes zusätzliche DNS-Segment gehabt hatten. Dafür gab es noch keine Erklärung. Victor hatte die Entdeckung Marsha wohlweislich verschwiegen. Es war schon schlimm genug, daß er ständig daran denken mußte. Wenn er ihr schon nicht den Schmerz über die ganze schreckliche Wahrheit ersparen konnte - falls es denn wirklich so war -, dann würde er ihr wenigstens jede dieser kleinen Enthüllungen ersparen, die auf diese Wahrheit hindeuteten.
Und dann war da noch Marshas Frage, was VJ wohl sonst noch alles hinter den verschlossenen Türen seines Labors treiben mochte. Der Junge war so einfallsreich, und er hatte die Geräte und die Ausrüstung, um fast alles machen zu können, was man in der experimentellen Biologie nach dem heutigen Stand der Forschung überhaupt machen konnte. Abgesehen von der Entwicklung der Implantationsmethode, was trieb er womöglich sonst noch alles? Selbst während der Führung, so umfassend sie gewesen war, hatte Victor sich des unbehaglichen Gefühls nicht erwehren können, daß VJ ihm nicht alles zeigte.
»Vielleicht sollte ich mich mal selbst umsehen«, sagte Victor laut und warf den Bleistift auf seinen Schreibtisch. Es war Viertel vor zwei in der Frühe, aber wen störte das?
Victor kritzelte eine kurze Nachricht auf einen Zettel, für den Fall, daß Marsha oder VJ aufwachen und seine Abwesenheit bemerken sollte. Dann holte er seinen Mantel und eine Taschenlampe, fuhr den Wagen rückwärts aus der Garage und ließ das Tor mit seiner Fernsteuerung herunter. Als er am Ende der Einfahrt war, hielt er an und warf einen Blick zum Haus. Nirgendwo ging Licht an; niemand hatte etwas gemerkt.
Bei Chimera kam der Sicherheitsposten, der die Torschranke bediente, aus dem Büro und leuchtete Victor mit einer Lampe ins Gesicht. »Oh, Entschuldigung, Dr. Frank, Sie
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