Das Ungeheuer
gewesen, wie VJ vorausgesagt hatte: Es überstieg seine kühnsten Erwartungen.
Als Victor in die Einfahrt einbog, war der Sender bei den Sechzigern angelangt, und er sang lauthals »Sweet Caroline« im Chor mit Neil Diamond. Er lenkte den Wagen um das Haus herum und wartete vor der Garagentür, daß sie sich öffnete. Nachdem er den Wagen in die Garage gefahren hatte, sang er noch einen Moment weiter, bis der Song zu Ende war, bevor er die Zündung ausschaltete und ausstieg. Er ging um Marshas Wagen herum und betrat das Haus.
»Marsha!« brüllte Victor, sobald er zur Tür herein war. Er wußte, daß sie zu Hause war, weil ihr Wagen in der Garage stand, aber es war nirgends Licht an.
Er wollte noch mal rufen, aber ihr Name blieb ihm im Halse stecken. Sie saß keine zwei Meter vor ihm in der Dunkelheit des Wohnzimmers. »Da bist du«, sagte er.
»Wo ist VJ?« fragte sie. Sie klang müde.
»Er bestand darauf, mit seinem Fahrrad zu fahren«, antwortete Victor. »Aber keine Angst, Pedro ist bei ihm.«
»In dem Punkt habe ich bestimmt keine Angst um VJ«, sagte Marsha. »Vielleicht sollten wir eher Angst um den Wachmann haben.«
Victor knipste eine Lampe an. Marsha schirmte die Augen gegen die plötzliche Helligkeit ab. »Bitte«, sagte sie, »mach sie wieder aus!« Victor gehorchte. Er hatte gehofft, daß sie in besserer Stimmung sein würde, wenn er nach Hause kam, aber es sah nicht gut aus. Unverzagt setzte sich Victor in einen Sessel und stimmte ein überschwengliches Loblied über VJs Arbeit und seine verblüffenden Leistungen an. Er berichtete Marsha, daß das Implantationsprotein tatsächlich funktionierte. Der Beweis war unumstößlich. Dann erzählte er ihr die Hauptsache - nämlich, daß die Lösung des Implantationsproblems der Schlüssel zum Geheimnis des gesamten Differenzierungsprozesses sei.
»Wenn VJ nicht so erpicht auf Geheimhaltung wäre«, fuhr Victor schwungvoll fort, »wäre er ein heißer Kandidat für den Nobelpreis. Davon bin ich überzeugt. So wie die Dinge liegen, will er, daß ich den ganzen Ruhm einheimse und Chimera den wirtschaftlichen Nutzen. Was sagst du dazu? Klingt das für dich nach einer Persönlichkeitsstörung? Für mich klingt das verdammt großzügig.«
Da Marsha keine Anstalten machte, irgend etwas zu erwidern, sah sich Victor plötzlich um Worte verlegen. Nach einem Moment des Schweigens sagte Marsha: »Ich möchte dir nur ungern den Tag verderben, aber ich fürchte, ich habe weitere beunruhigende Dinge über VJ erfahren.«
Victor verdrehte die Augen und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Das war nicht die Reaktion, auf die er gehofft hatte.
»Dieser eine Lehrer von der Pendieton Academy, der sich so bemühte, an VJ heranzukommen, ist vor ein paar Jahren gestorben.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Er starb an Krebs.«
»Okay, er starb an Krebs.« Victor fühlte, wie sein Puls sich beschleunigte.
»Er starb an Leberkrebs.«
»Ach«, sagte Victor. Ihm gefiel die Richtung nicht, in die das Gespräch sich bewegte.
»Und zwar an dem gleichen seltenen Typ von Leberkrebs, an dem sowohl David als auch Janice gestorben sind.«
Bedrückendes Schweigen senkte sich über das Wohnzimmer. Der Kühlschrankkompressor sprang an. Victor wollte diese Dinge nicht hören. Er wollte über die Implantationstechnologie sprechen und was sie für all die vielen unfruchtbaren Paare bedeuten würde.
»Dafür, daß es sich um einen so extrem seltenen Krebstyp handelt, scheinen eine Menge Leute daran zu erkranken«, fuhr Marsha ungerührt fort. »Leute, die VJs Weg kreuzen. Ich hatte ein Gespräch mit Mr. Cavendishs Frau – seiner Witwe. Sie ist sehr sympathisch. Sie unterrichtet auch auf der Pendieton Academy. Und ich habe mit einem Mr. Arnold gesprochen. Es stellte sich heraus, daß er David sehr nahestand. Weißt du, daß VJ David bedroht hat?«
»Großer Gott, Marsha! Kinder drohen sich ständig gegenseitig. Das habe ich auch getan, als mein älterer Bruder einen Schneemann kaputtgemacht hat, den ich gebaut hatte.«
»VJ hat David gedroht, ihn umzubringen, Victor. Und nicht in der Hitze eines Streits.« Marsha war den Tränen nahe. »Wach auf, Victor!«
»Ich will nichts mehr davon hören«, sagte Victor wütend. »Jedenfalls nicht jetzt.« Er war noch immer ganz euphorisch von seiner Tagestour durch VJs Labor. Gab es eine dunkle Seite am Genie seines Sohnes? Er hatte in der Vergangenheit bisweilen die eine oder andere ungute Vermutung gehabt, aber er hatte sie stets leicht
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