Das Ungeheuer
andere Dinge zu denken, geisterten ihm Marshas Worte ständig im Kopf herum: »Dafür, daß es sich um einen so extrem seltenen Krebstyp handelt, scheinen eine Menge Leute daran zu erkranken. Leute, die VJs Weg kreuzen.« Victor fragte sich, wie er sich fühlen würde, wenn Marsha daran erkranken würde.
Trotz dieser bedrückenden Gedanken war Victor von Begeisterung über das neue Implantationsprotein-Projekt erfüllt. Er packte den lästigen Verwaltungspapierkram, der sich inzwischen auf seinem Schreibtisch angehäuft hatte, mit viel mehr Gelassenheit als sonst an. Er war richtig froh, sich in die Schreibtischarbeit stürzen zu können; das lenkte ihn ab und vertrieb wenigstens zeitweilig die quälenden Gedanken. Colleen kam mit ihrem üblichen Packen Telefonnachrichten und Briefen herein, die der sofortigen Erledigung bedurften. Victor ließ sie erst einmal rasch von ihr durchgehen, bevor er irgendwelche Entscheidungen treffen wollte, halb darauf hoffend, daß irgendwas dabei war, das auf eine Erpressung wegen des NGF-Projekts hindeutete, aber es war nichts dabei. Die befriedigendste Entscheidung betraf die Frage, ob Victor Anzeige gegen Sharon Carver erstatten sollte. Er trug Colleen auf, die Parteien wissen zu lassen, daß er bereit sei, seine Klage zurückzuziehen, wenn die grundlose Klage wegen Geschlechtsdiskriminierung ebenfalls fallengelassen würde.
Der letzte Punkt, den Victor Colleen zu erledigen auftrug, war, ein Treffen mit Ronald zu terminieren, damit er den Mann wegen der Probleme, die mit der NGF-Arbeit zusammenhingen, zur Rede stellen konnte. Wenn dabei nichts herauskommen würde - und damit rechnete er -, würde er ein Gespräch mit Hurst führen. Hurst mußte der Schurke sein; Victor betete, daß er es war. Er hätte jetzt nichts Besseres brauchen können als einen harten, unumstößlichen Beweis, den er Marsha vorlegen konnte mit den Worten: »Siehst du, VJ hatte nichts mit dieser Sache zu tun.«
Für Marsha war die Arbeit eine regelrechte Qual. Sosehr sie sich bemühte, sie vermochte beim besten Willen nicht das Maß an Konzentration aufzubringen, das für ihre Therapiesitzungen unabdingbar war. Ohne irgendeine Erklärung zu
geben, bat sie plötzlich Jean, sie solle die restlichen Termine für den Tag absagen. Jean war zwar alles andere als erbaut, tat aber, wie ihr geheißen.
Sobald Marsha mit den Patienten fertig war, die bereits im Warteraum saßen, schlüpfte sie zum Hintereingang hinaus und ging hinunter zu ihrem Wagen. Sie nahm die 495 bis zur 93 und bog dann Richtung Boston ab. Aber sie fuhr nicht in Boston raus, sondern auf dem South East Expressway bis nach Neponset und von dort aus weiter nach Mattapan.
Den Zettel mit der Adresse auf dem Beifahrersitz, suchte Marsha nach Martinez Enterprises. Die Gegend, in der sie sich befand, war ziemlich heruntergekommen. Die Häuser, die die Straße säumten, durch die sie fuhr, waren größtenteils recht verfallene dreigeschossige Fachwerkbauten, gelegentlich unterbrochen von ausgebrannten Hüllen.
Martinez Enterprises entpuppte sich als ein altes Lagerhaus ohne Fenster. Kurzentschlossen fuhr Marsha an den Randstein und stieg aus. Eine Klingel oder Ähnliches war nirgends zu entdecken. Marsha klopfte, zögernd zuerst, doch als keine Reaktion kam, heftiger. Aber immer noch zeigte sich niemand.
Marsha trat ein paar Schritte zurück, sah sich erst die Tür des Hauses an, dann die Fassade. Sie fuhr zusammen, als sie plötzlich bemerkte, daß an der linken Ecke des Gebäudes ein Mann in dunklem Anzug und weißer Krawatte stand, der sie beobachtete. Er lehnte mit einem amüsierten Lächeln an der Mauer. In der Hand hielt er eine Zigarette. Als er sah, daß Marsha ihn entdeckt hatte, sprach er sie auf spanisch an.
»Ich kann kein Spanisch«, sagte Marsha.
»Was wollen Sie?« fragte der Mann mit einem harten Akzent.
»Ich möchte Orlando Martinez sprechen.«
Zuerst gab der Mann keine Antwort. Er rauchte seine Zigarette zu Ende, dann warf er sie in den Rinnstein. »Kommen Sie!« sagte er und verschwand um die Ecke des Gebäudes.
Marsha ging bis zur Ecke und spähte einen mit Abfall übersäten Durchgang hinunter. Sie zögerte. Ihre innere Stimme drängte sie, zu ihrem Wagen zurückzukehren und zu verschwinden, aber sie wollte die Sache durchstehen. Sie folgte dem Mann. Ein Stück weiter befand sich eine zweite Tür, die nur angelehnt war.
Das Innere des Gebäudes stand seinem Äußeren an Unwirtlichkeit in nichts nach. Der größte
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