Das Ungeheuer
noch, um ihre Hausarbeiten zu verrichten, und auch dann stets widerwillig. Zu allem Überfluß war sie mürrisch und verschlossen geworden, und abends sperrte sie sich in ihr Zimmer ein.
Aber schlimmer noch war die Haltung, die sie VJ gegenüber entwickelte. Plötzlich wollte sie mit dem Jungen, der damals fünf Jahre alt war, nicht mehr das geringste zu tun haben. Auch wenn VJ ein außergewöhnlich unabhängiges Kind war, gab es doch Gelegenheiten, bei denen Janices Beistand erforderlich war: Doch sie weigerte sich, ihm zu helfen. Marsha hatte ihr mehrmals ins Gewissen geredet, aber ohne Erfolg. Janice mied den Jungen weiter beharrlich. Wenn man sie bedrängte, faselte sie etwas vom Teufel in ihrer Mitte und anderen religiösen Unfug.
Marsha war mit ihrem Latein am Ende, als Janice krank wurde. Victor war als erstem aufgefallen, wie gelb das Weiße in ihren Augen geworden war. Er machte Marsha darauf aufmerksam. Mit Entsetzen erkannte Marsha, daß Janices Augen den gleichen gelbsüchtigen Schimmer hatten wie zuvor die Augen Davids. Eilends fuhr Victor mit Janice nach Boston, um ihren Zustand untersuchen zu lassen. Trotz der gelben Augen war die Diagnose dann ein furchtbarer Schock: Sie hatte die gleiche Leberkrebsart, an der David gestorben war.
Zwei Fälle einer so seltenen Form von Leberkrebs im selben Haushalt binnen eines Jahres boten Anlaß zu ausgedehnten epidemiologischen Untersuchungen. Aber die Resultate waren ausnahmslos negativ gewesen. Eine Gefährdung durch die Umwelt war nicht vorhanden. Die Computer kamen zu dem Ergebnis, daß die beiden Fälle nichts weiter als ein seltenes Zufallszusammentreffen waren.
Zumindest trug die Diagnose Leberkrebs dazu bei, Janices bizarres Verhalten zu erklären. Die Ärzte meinten, sie habe bereits Metastasen im Gehirn. Als die Diagnose einmal gestellt war, ging es rasch und gnadenlos mit ihr bergab. Trotz der Therapie verlor sie rapide an Gewicht, und innerhalb von zwei Wochen war sie Haut und Knochen. Aber der letzte Tag, bevor sie ins Krankenhaus gegangen war, um zu sterben, war so schrecklich wie kein anderer.
Victor war gerade heimgekommen und hielt sich im Badezimmer neben dem Wohnzimmer der Familie auf. Marsha bereitete in der Küche das Abendessen vor, als das Haus von einem Schrei widerhallte, der das Blut gefrieren ließ.
Victor kam aus dem Bad gestürzt. »Was, um Gottes willen, war das?« schrie er.
»Es kam aus Janices Zimmer«, sagte Marsha, die sehr blaß geworden war.
Marsha und Victor wechselten einen wissenden, unheilvollen Blick, und sie liefen hinaus zur Garage und die schmale Treppe hinauf zu Janices separatem Studio-Apartment.
Bevor sie das Zimmer erreicht hatten, zerriß ein zweiter Schrei die Stille. Unter seiner urzeitlichen Kraft schienen die Fensterscheiben zu klirren.
Victor war als erster im Zimmer. Marsha folgte ihm auf den Fersen.
Janice stand mitten auf dem Bett und hielt ihre Bibel umklammert. Sie bot einen mitleiderregenden Anblick. Ihr Haar, das spröde geworden war, stand vom Kopf ab und gab ihr ein dämonisches Aussehen. Ihr Gesicht war eingefallen, und gelbe Haut spannte sich über die nur allzu deutlich sichtbaren Knochen. Ihre Augen waren wie gelbe Neonlichter, ihr Blick war starr.
Einen Moment lang war Marsha wie hypnotisiert von dieser Vision: Janice als Harpyie. Dann folgte sie dem Blick der Frau. In der anderen Tür zu ihrem Zimmer stand VJ. Er zuckte mit keiner Wimper, sondern erwiderte Janices starren Blick ebenso starr und gelassen.
Marsha ahnte sogleich, was geschehen war: VJ war in aller Unschuld Janices Hintertreppe heraufgekommen und hatte sie anscheinend erschreckt. In der durch die Krankheit hervorgerufenen Psychose hatte Janice angefangen zu schreien.
»Er ist der Teufel!« fauchte sie jetzt mit zusammengebissenen Zähnen. »Er ist ein Mörder! Schafft ihn weg von mir!«
»Versuch du, Janice zu beruhigen!« rief Marsha und lief zu VJ. Sie packte den Sechsjährigen, flüchtete mit ihm die Treppe hinunter und ins Wohnzimmer zurück und schlug die Tür zu. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brust und dachte daran, wie töricht sie gewesen war, die irrsinnige Frau in ihrem Haus bleiben zu lassen.
Schließlich entließ sie VJ aus ihrer bärenmütterlichen Umarmung. VJ wich zurück und sah sie mit seinen kristallklaren Augen an.
»Janice meint nicht, was sie sagt«, erklärte Marsha. Hoffentlich würde dieser schreckliche Augenblick keine dauerhaften Folgen haben.
»Ich weiß«, erwiderte VJ mit erstaunlich
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