Das Ungeheuer
erwachsener Reife. »Sie ist sehr krank. Sie weiß nicht, was sie redet.«
Seit jenem Tag konnte Marsha sich nie mehr entspannen und das Leben genießen wie früher. Sie fürchtete, wenn sie es täte, werde Gott wiederum zuschlagen, und wenn VJ irgend etwas zustoßen sollte, würde sie den Verlust wahrscheinlich nicht verwinden können.
Als Kinderpsychiaterin wußte sie, sie konnte von ihrem Sohn nicht erwarten, daß er sich in einer bestimmten Weise entwickelte, aber sie merkte doch oft, daß sie sich wünschte, VJ wäre ein Kind, das seine Zuneigung offener zeigte. Schon als Säugling war er geradezu unnatürlich unabhängig gewesen. Gelegentlich ließ er sich von ihr umarmen, aber manchmal sehnte sie sich danach, daß er auf ihren Schoß krabbeln und mit ihr schmusen möge, wie David es getan hatte.
Als sie ihn jetzt beobachtete, wie er von seinem Fahrrad stieg, fragte sie sich, ob VJ so selbstversunken war, wie er manchmal erschien. Sie winkte, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber er blickte nicht auf, sondern hakte seine Satteltaschen ab und ließ sie auf das Kopfsteinpflaster fallen. Dann stieß er die Scheunentür auf und schob sein Rad für die Nacht hinein. Als er wieder zum Vorschein kam, hob er die Satteltaschen auf und wandte sich dem Haus zu. Marsha winkte erneut, aber obgleich er ihr jetzt geradewegs entgegenkam, reagierte er nicht. Er drückte das Kinn an die Brust, denn der kalte Wind pfiff beständig durch den Hof.
Sie wollte an die Fensterscheibe klopfen, ließ die Hand jedoch wieder sinken. In letzter Zeit hatte sie das schreckliche Gefühl, daß mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Der Himmel wußte, daß ihre Liebe zu ihm nicht größer hätte sein können, wenn sie ihn selbst geboren hätte, aber manchmal fürchtete sie, er sei unnatürlich kalt und gefühllos. Genetisch war er ihr leiblicher Sohn, aber er hatte nichts von der Warmherzigkeit und Sorglosigkeit, die sie aus ihrer eigenen Kindheit in Erinnerung hatte. Vor dem Einschlafen war sie oft von dem Gedanken besessen, daß die Zeugung in einer Petrischale irgendwie seine Gefühle eingefroren habe. Sie wußte natürlich, daß diese Idee lächerlich war, aber sie kehrte doch immer wieder zurück.
Sie schüttelte diese Gedanken ab und rief: »VJ ist zu Hause.« Victor saß vor einem knisternden Feuer im Wohnzimmer neben der Küche und las. Er brummte etwas, blickte aber nicht auf.
Das Zuschlagen der Hintertür verkündete VJs Eintreten. Marsha hörte, wie er im Windfang Mantel und Stiefel auszog. Gleich darauf stand er in der Küchentür. Er war ein hübscher Junge, ungefähr einsfünfzig - ein bißchen groß für einen Zehnjährigen. Sein goldblondes Haar war nicht gedunkelt wie bei Marsha, und sein Gesicht hatte das engelhafte Aussehen behalten. Und wie am Tag seiner Geburt waren die eisblauen Augen sein hervorstechendstes Merkmal. Denn mochte er auch aussehen wie ein Cherubin, diese intensiv blickenden Augen ließen eine Intelligenz ahnen, die die Weisheit seiner Jahre hinter sich ließ.
»Also, junger Mann«, schimpfte Marsha in gespieltem Ärger, »du weißt doch, daß du nicht mehr mit deinem Rad draußen herumfahren sollst, wenn es dunkel ist!«
»Aber es ist noch nicht dunkel«, widersprach VJ mit seiner klaren Sopranstimme. Dann merkte er, daß seine Mutter Spaß gemacht hatte. »Ich war drüben bei Richie«, fügte er hinzu, legte die Satteltaschen hin und kam zum Spülbecken.
»Schön«, sagte Marsha, offensichtlich erfreut. »Warum hast du nicht angerufen? Dann hättest du bleiben können, solange du wolltest. Nachher hätte ich dich mit Vergnügen abgeholt.«
»Ich wollte nach Hause.« VJ nahm sich eine der Möhren, die Marsha geputzt hatte, und biß geräuschvoll ein Stück ab.
Marsha legte die Arme um ihn und drückte ihn an sich; sie spürte die Kraft in seinem drahtigen jungen Körper. »Da diese Woche doch keine Schule ist, dachte ich, du wärst gern bei Richie geblieben und hättest dich ein bißchen amüsiert«, meinte sie.
»Nee«, sagte VJ und entwand sich dem Griff seiner Mutter.
»Machst du deiner Mutter wieder Sorgen?« fragte Victor in scherzhaftem Ton. Er erschien in der Wohnzimmertür, eine aufgeschlagene wissenschaftliche Zeitschrift in der Hand; die Lesebrille balancierte in bedenklichem Gleichgewicht auf seiner Nasenspitze.
Ohne Victor zu beachten, fragte Marsha: »Wie steht's mit dieser Woche? Hast du irgendwelche Pläne mit Richie?«
»Nein. Ich habe vor, die Woche bei Dad im Labor zu
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