Das Ungeheuer
Außergewöhnliches«, stellte sie dann fest. »Etwas sonderbar die Validitätsskala des MMPI, aber sonst gibt es hier keinen Anlaß zur Sorge.«
Marsha hatte das Gefühl, daß Valerie recht hatte. Sie berichtete von VJs Schulschwänzerei, den gefälschten Entschuldigungen und den Prügeleien in der Schule.
»VJ scheint mir ein erfindungsreiches Kerlchen zu sein«, meinte Valerie schmunzelnd. »Wie alt ist er wieder?«
»Zehn«, sagte Marsha. »Was mir außerdem Sorgen macht, ist die Tatsache, daß er anscheinend nur einen einzigen gleichaltrigen Freund hat, einen Jungen namens Richie Blakemore, und den habe ich noch nie gesehen.«
»VJ bringt den Jungen nie mit nach Hause?« fragte Valerie.
»Nie.«
»Könnte sich lohnen, mal mit Mrs. Blakemore zu plaudern«, sagte Valerie. »Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie eng das Verhältnis der beiden Jungen ist.«
»Vermutlich.«
»Ich würde mir VJ mit Vergnügen mal ansehen, wenn du meinst, daß er dazu bereit ist«, erbot sich Valerie.
»Dafür wäre ich wirklich dankbar. Ich glaube, ich selbst stecke einfach zu tief in der Situation, um ihn einschätzen zu können. Gleichzeitig habe ich schreckliche Angst bei dem Gedanken, er könnte vor meinen Augen eine ernsthafte Persönlichkeitsstörung entwickeln.«
Marsha verabschiedete sich im Aufzug von Valerie; sie dankte ihr überschwenglich für ihre Zeit und für das Angebot, sich VJ einmal anzusehen, und sie versprach, Valeries Sekretärin anzurufen und einen Termin zu vereinbaren.
»Ihr Mann hat angerufen«, berichtete Jean, als sie wieder in die Praxis kam. »Sie sollen unbedingt zurückrufen.«
»Ein Problem?« fragte Marsha.
»Glaube ich nicht. Gesagt hat er nichts, aber er klang nicht aufgeregt.« Marsha nahm ihre Post, ging in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich. Während sie in den Briefen blätterte, rief sie Victor an. Colleen stellte sie ins Labor durch, und Victor meldete sich.
»Was gibt's?« fragte Marsha. Victor rief nicht oft tagsüber an.
»Das Übliche«, antwortete Victor.
»Du klingst müde«, stellte Marsha fest. Du klingst seltsam, hatte sie eigentlich sagen wollen. Seine Stimme war tonlos, als habe er eben einen Gefühlsausbruch gehabt und zwinge sich jetzt zur Ruhe.
»In letzter Zeit jagt eine Überraschung die andere«, sagte Victor ohne weitere Erläuterungen. »Ich rufe nur an, um dir mitzuteilen, daß VJ und Philip zu Hause sind.«
»Stimmt etwas nicht?«
»Nein, nein - es ist alles in Ordnung. Aber ich mache heute Überstunden; ihr solltet also nicht mit dem Essen auf mich warten. Ach, übrigens, eine Sicherheitsfirma bewacht unser Haus jetzt von sechs Uhr abends bis sechs Uhr früh.«
»Haben deine Überstunden irgend etwas mit diesen Belästigungen zu tun?«
»Kann sein«, erwiderte Victor. »Ich erklär's dir, wenn ich nach Hause komme.« Marsha legte auf, aber ihre Hand blieb auf dem Hörer. Wieder hatte sie das unbehagliche Gefühl, daß Victor ihr etwas verschwieg. Etwas, das sie wissen wollte. Wieso konnte er sich ihr nicht anvertrauen? Immer stärker wurde das Gefühl, sie sei allein.
Eine eigenartige Stille hing über dem Labor, als Victor allein war. Hin und wieder schalteten sich verschiedene elektronische Geräte ein, aber sonst war alles ruhig. Um halb neun war Victor der einzige Mensch im Labor. Hinter den verschlossenen Türen hörte er nicht einmal die Geräusche von den Tieren, die in ihren Käfigen umherhuschten oder in ihren Laufrädchen rannten.
Victor saß über Filmstreifen gebeugt, die dunkle horizontale Striche zeigten. Jeder Strich repräsentierte einen Teil der DNS, die an einer bestimmten Stelle gespalten worden war. Er verglich den DNS-Fingerprint seines Sohnes David — hergestellt, als David noch gesund gewesen war- mit einem von seinem Lebertumor. Was ihn in Erstaunen versetzte, war die Tatsache, daß die beiden nicht völlig gleich waren. Victors erste Vermutung war, daß Dr. Shryack ihm vielleicht eine falsche Probe gegeben habe, ein Tumorstück von einem anderen Patienten. Aber das erklärte nicht die weitgehende Übereinstimmung der Streifen; denn auch wenn die beiden Fingerprints sich an einzelnen Stellen unterschieden, waren sie doch im großen und ganzen gleich.
Nachdem er sie beide in einen Computer gefüttert hatte, der das numerische Verhältnis der gleichen Abschnitte zu den verschiedenen ermitteln konnte, erkannte Victor, daß die beiden DNS-Proben sich nur in einem Bereich unterschieden.
Um die Sache noch
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