Das Unglück der kleinen Giftmischerin
mildere Strafe zu bekommen. Das war die in meinem Gutachten aufgeführte dritte Alternative. Sie schloss die zweite nicht völlig aus. Yüllan war dazu imstande, sich willentlich in ein imaginiertes Szenario völlig hineinfallen zu lassen und es sich als wirklich einzureden, gleichzeitig hielt er aber immer auch das Wissen parat, dass er selbst es sich eingebildet hatte.
Zu der Kehrtwendung in Yüllans Aussage war es gekommen, als Lisas Vater dem Gericht handgeschriebene Tagebuchnotizen seiner Tochter überreichte, die fast die ganze Zeit ihrer Beziehung umfassten. Aus ihnen ging hervor, dass alles, was Familie und Freundinnen der Polizei und dem Gericht über Yüllans Gewaltanwendungen und Gewaltandrohungen gegenüber Lisa berichtet hatten, von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wurde. Lisa hatte jede Prügel, die sie von Yüllan bezogen hatte, mit genauer Datumsangabe vermerkt, von dem ersten Streit über dessen falsche italienische Herkunft an bis zum Ende des kurzen Zusammenlebens in einer gemeinsamen Wohnung. Sie schrieb gar, dass Yüllan sie nach einer mehrmonatigen Trennung, die dem ersten Streit gefolgt war, unter Todesdrohungen gegen ihre Eltern und sie zu weiteren sexuellen Kontakten erpresst und des Öfteren auch brutal vergewaltigt hatte. Dem Tagebuch war sehr deutlich zu entnehmen, wann und wie eine leidenschaftliche, aber auch zärtliche Liebe umgeschlagen war in eine reine Machtdemonstration mit eingestreuten Hassanfällen auf Yüllans Seite und in eine zuerst noch zwiespältige, dann aber nur noch angsterfüllte Unterwürfigkeit bei Lisa. Auch von zwei Versuchen Lisas, sich trotz ihrer Angst von Yüllan zu lösen, war in den Aufzeichnungen die Rede: Mit einem deutschen Jungen war es nach einer mehrwöchigen Bekanntschaft zu einem einmaligen Geschlechtsverkehr gekommen, dann war ihm die Sache »zu unheimlich« geworden, wie er vor Gericht sagte, und er hatte sich nicht wieder bei ihr blicken lassen. Mit einem jungen Türken hatte sie einen Abend lang Zärtlichkeiten ausgetauscht, aber es nicht fertig gebracht, ihm von ihrer Angst vor Yüllan zu erzählen. Auch er hatte sich nicht wieder bei ihr gemeldet. Yüllan räumte nach dem Vortrag der Tagebücher die Schläge, die Drohungen und die sexuelle Gewalt Lisa gegenüber zwar ein, behauptete aber, sie hätte ihn nach ihrer vorübergehenden Trennung mit Erzählungen über Orgien mit mehreren Jungen in einem Hotel auf hundert gebracht, und jedes Mal wenn er an diese Geschichten auch nur habe denken müssen, sei ihm die Hand ausgerutscht. Dass Lisa manchmal nur aus Angst mit ihm geschlafen hatte, das hielt er aus der Rückschau zwar für möglich, damals sei ihm so etwas allerdings nie in den Sinn gekommen. Die Todesdrohungen gegen Lisas Eltern stritt er weiterhin ab.
Die angeblichen Orgien erschienen dem Gericht wenig glaubhaft, hatte Lisa doch im Tagebuch sehr offen von ihren beiden kurzen Liebesepisoden in der Trennungsphase von Yüllan berichtet, wobei sehr deutlich wurde, dass es sich beide Male um vorsichtige, zärtliche und langsame Annäherungen gehandelt hatte. Die »Orgie« wäre, hätte sie stattgefunden, von ihr sicherlich auch im Tagebuch vermerkt worden. Zudem schien sie zu Lisas Wesensart überhaupt nicht zu passen.
Yüllan gab schließlich zu, Lisa und ihre Kollegin getötet zu haben. Lisa hätte ihn zuletzt, wenn er sie irgendwann doch am Telefon erreicht hätte, als Versager beschimpft und verhöhnt. Am Tattag sei er zu ihr gefahren, um sie deswegen zu ermahnen und um sie - allerdings nur mit Worten - zur Rechenschaft zu ziehen. Gut, vielleicht hätte er sie auch beschimpfen wollen, um seine Wut auf sie etwas abzulassen, aber dazu sei es gar nicht gekommen, denn sie hätte ihn gleich mit höhnischen Bemerkungen empfangen und ihn wieder einen Versager genannt. Da hätte er seine Pistole gezogen und sei ihr, als sie vor ihm in den kleinen Injektionsraum der Praxis flüchtete, dorthin gefolgt und hätte blind drauflosgeschossen. Die Pistole, die er sich kurz zuvor gekauft hatte, nannte er jetzt seinen »Ersatzschwanz«. Ohne sie hätte er sich gar nicht zu Lisa getraut.
Vor meinem Abschlussgutachten vernahm das Gericht noch den Jugendamtsvertreter, der Yüllan und seine Geschwister ein Jahrzehnt lang intensiv betreut hatte. Was wir zu hören bekamen, bestätigte Yüllans Angaben über sein Elternhaus vollauf. Es war eine einzige Geschichte brutaler Gewalt: Prügel, Misshandlungen, Todesdrohungen durch den Vater schon bei den
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