Das Unglück der kleinen Giftmischerin
sich nur dadurch zu helfen gewusst, dass er sie würgte und gleichzeitig mit Gewalt nahm. Erst als sie tot war, sei er wieder zu sich gekommen.
Anton stellte mir Noras Tötung also halb als Verdeckungsmord, halb als eine Art Kurzschlusshandlung im Affekt dar und wies die Vermutung zurück, es sei ein Lustmord, »zur Befriedigung des Geschlechtstriebes«, gewesen, wie der §211 des Strafgesetzbuches es formuliert. Ich hatte keinerlei Möglichkeit zu überprüfen, ob er mir da die Wahrheit sagte. Zweifel daran waren angebracht, nicht zuletzt weil Alice, sein erstes Opfer, das Gefühl gehabt hatte, gerade das Quälen mache ihm besonders Spaß. Zwei Fragen stellten sich mir. Erstens: Wie war Anton zu einem Vergewaltiger und schließlich auch zu einem Mörder geworden? Und zweitens: Handelte es sich bei ihm um eine pathologische sexuelle Devianzform, eine Perversion sadistischer Prägung, die seine Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigte? Zweifellos fest stand nur, dass er ein höchst gefährlicher Täter war.
Nur wenige Mosaiksteinchen hatte ich gefunden, die vielleicht die Genese von Antons delinquentem Handlungsmuster klären helfen konnten. Misshandlungen oder gar sexuellem Missbrauch war er in seiner Kindheit und Jugend nicht ausgesetzt gewesen, die Eltern hätten sich liebevoll um ihn und um seinen Bruder gekümmert. Auch mit diesem Bruder vertrug er sich gut. Aber als Anton sieben Jahre alt wurde, hatte die Mutter die Familie mit einem Mitarbeiter des Vaters verlassen, und der Vater lebte seither mit wechselnden Freundinnen. Anton konnte der Mutter nicht verzeihen, dass sie weggegangen war, in seinen Augen blieb sie eine »Schlampe«. Gleichzeitig liebte er sie und telefonierte jede Woche mit ihr. Wollte er in den zwei Frauen, die er vergewaltigt hatte, seine Mutter bestrafen und gleichzeitig lieben?
Später, mit fünfzehn, sechzehn, also mitten in der Pubertät, waren ihm Videoszenen in die Hand gefallen, auf denen sein Vater seine Freundin fesselte und schlug: ein Antons noch unreife Sexualität mitprägender, nachhaltiger Eindruck, der überdies ein Echo in seiner Hassliebe zur Mutter fand. In seinem eigenen ersten sexuellen Erlebnis spielte er die Sadoszene des Vaters und seiner Freundin nach und zwang Alice, die schon Erfahrungen mit Männern hatte, ihn zu entjungfern - so als ob Gewalt auch noch zu dieser seitenverkehrten Szene gehören würde. Vermuten lässt sich, dass die prägende Kraft dieser Initiation die dunkle Seite von Antons Sexualität aufgeladen hat, den Gegenpol der langweiligen Zärtlichkeiten, von denen seine Partnerinnen meist schon nach kurzer Zeit genug hatten. Aber diese These hat auch ihre Schwächen, denn auf Alice’ Vergewaltigung folgten neun Jahre gewaltfreier Sexualität, so dass die Prägung, wenn ich mit dieser Annahme überhaupt richtig lag, nur auf der Ebene vorerst ins Unbewusste verdrängter, tabuisierter Wünsche stattgefunden haben konnte. Jedenfalls war dieses ganze Gedankengebäude zu hypothetisch, um es dem Gericht als Sachverständigenmeinung andienen zu können.
Um die Antwort auf die Frage, ob eine krankheitswertige sexuelle Devianz bei Antons Tat wirksam gewesen war, kam ich aber nicht herum. Der Gesetzgeber hatte sie bei der großen Strafrechtsreform der sechziger Jahre unter dem Etikett einer »anderen schweren seelischen Abartigkeit« subsumiert, einem noch von der Sprache des Dritten Reiches inspirierten Begriff, der in Klemperers »lingua tertii imperii« mühelos seinen Platz gefunden haben könnte. Der verstorbene Hamburger Sexualforscher Schorsch hatte bei zwei Formen sexueller Devianzen eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit für wahrscheinlich erklärt: die eine, »progrediente«, wenn dranghafte Fantasien sadistischer, masochistischer, pädophiler oder fetischistischer Natur zunehmend von der Vorstellungswelt eines Menschen Besitz ergreifen bis sie schließlich auch gegen den Widerstand des Betroffenen handlungsrelevant werden, und eine zweite, wenn solche Fantasien trotz zwischenzeitlicher erfolgreicher Verdrängung in unbestimmten Zeitabständen als unvorhersehbare, überwältigende Impulshandlungen hervorbrechen. Nur diese letztere, impulsive Devianzform konnte bei Anton in Frage kommen.
Was die Vergewaltigungen angeht, konnte es sich in der Tat um solche Impulshandlungen gehandelt haben. War dies aber bei der Tötung selbst auch der Fall gewesen? Bevor es dazu gekommen war, hatte es eine Zäsur im Handlungsablauf gegeben:
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