Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
verlorengegangene Sohn kehrt zurück. Welch passender Moment. Darf man erfahren, wer dir die gute Nachricht überbracht hat?“
Angesichts der Abscheu in Lorios Stimme wich Atlan unwillkürlich einen Schritt zurück. Welche Nachricht? Passender Moment? Irgendetwas Essentielles musste ihm entgangen sein. Doch Lorio ließ ihm keine Gelegenheit, eine Frage zu stellen.
„Was willst du, Atlan? Eine kleine Beförderung? Genügt dir deine Gebetsstätte nicht mehr, greifst du jetzt nach dem Kloster?“ Er verzog den Mund, als wollte er auf den Boden spucken, hatte sich aber rasch wieder im Griff. „Ich habe nie verstanden, warum Seru dir dieses Fiasko durchgehen lassen hat. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, als er erfahren hat, dass du all die Zeit unbefugt eine Gebetsstätte geleitet hast, hätte ich dich sofort exkommuniziert. Aber das Gute daran ist: Jetzt bin ich an seiner Stelle.“
Endlich fand Atlan seine Sprache wieder, brachte jedoch nur ein kurzes „Was?“ heraus, ehe Lorio ihn wieder unterbrach.
„Wieso so überrascht? Hast du gedacht, du wärst so etwas Besonderes? Dass nur du als Nachfolger ausgewählt werden könntest?“ Ein herablassendes Lachen drang aus Lorios Kehle. „Weißt du, Seru wusste die ganze Zeit über, dass Ramin sich niemals an einem Novizen vergriffen hat. Er kannte schließlich auch die Gründe, die dich zu Ektors Nachfolger gemacht haben. Aber Ramin war ihm schon lange ein Dorn im Auge, und meine Anschuldigung hat ihm den notwendigen Grund gegeben, um ihn loszuwerden. Zu meinem Vorteil, wie sich herausgestellt hat.“
Das abschätzige Grinsen, mit dem Lorio ihn bei dieser Erklärung bedachte, verstärkte das Schwindelgefühl, von dem Atlan befallen wurde. Nachfolger? Das konnte nur eines bedeuten, aber … Wie? Seine Frage war offensichtlich nicht diejenige, die Lorio erwartet hatte.
„Seru ist tot?“ Seine eigene Priesterweihe lag noch nicht so lange zurück, und da hatte Seru keinerlei Anzeichen einer Krankheit gezeigt. „Was ist geschehen? Wann …?“
Lorio schnaubte ungeduldig. „Was denn, willst du mir weismachen, du wärst nicht deswegen hier? Gerade jetzt, wo alle weg sind, um der Bestattung beizuwohnen? Mich täuschst du nicht.“
Aber Atlan ließ sich nicht weiter einschüchtern. „Lorio, wie ist Seru umgekommen? Waren es die Puristen? Hat er …“
„Was weißt du von ihnen?“ Lorios zu Schlitzen verengte Augen sprühten geradezu vor Hass und Wut. „Glaubst du wirklich, du wüsstest alles? Du wirst es nie verstehen. Verschwinde zurück in deine Gebetsstätte, lass dich von deinen Gläubigen umschmeicheln. Aber glaub nicht, du könntest dich ungestraft in Dinge einmischen, von denen du keine Ahnung hast.“
„Aber …“
„Geh! Wenn du weißt, was gut für dich ist, lässt du die Reinen in Ruhe. Und mich auch.“
Damit betrachtete er das Gespräch offensichtlich als beendet, denn er platzierte sich mit betonter Ablehnung wieder in seinen Stuhl. Vor den Kopf gestoßen und einer Antwort ferner denn je zog Atlan sich zurück.
Er nickte dem schuldbewusst aussehenden Adepten zu, der an der Tür auf ihn wartete, und verließ das verhasste Gemäuer mit all seinen Intrigen und Geheimnissen.
Aber noch gab Atlan sich nicht geschlagen. Er wusste, dass es alleine in dem Stadtteil, der der Abtei unterstand, ein ganzes Netzwerk an Gebetsstätten gab, auch wenn er kaum eine Handvoll davon persönlich kannte. Sie alle waren einzeln gesehen zwar schwach, aber eigentlich eigenständige Organisationen, die der Abtei nicht unterstellt waren. Weil jedoch sämtliche Adepten der näheren Umgebung im Kloster ausgebildet wurden, hatte jedes Gebetshaus eine gewisse Verbindung dorthin. Und die gedachte Atlan jetzt für seine Zwecke zu nutzen.
Ohne seinen Zweifeln Gelegenheit zu geben, ihn aufzuhalten, machte er sich auf den Weg in die nächste ihm bekannte Gebetsstätte. Dort öffnete ihm ein Meister mit kantigem, verbissenen Gesicht und misstrauischem Blick die Tür.
„Ja?“, fragte er knapp.
Altan deutete die angemessene Verbeugung an. „Entschuldige die Störung, Meister. Du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich. Ich bin Meister Ektors Nachfolger.“
Ein Hauch des Erkennens legte sich über die Züge des Priesters, doch das Misstrauen blieb. „Ich erinnere mich. Was führt dich her? Solltest du nicht deine eigene Messe vorbereiten, anstatt mich von meiner abzuhalten?“
Beschämt erkannte Atlan, dass er überhaupt nicht auf die Zeit geachtet hatte.
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