Das Unglueck Mensch (Darwin's Failure)
der drei Verhüllten auf dem Video waren eindeutig männlich.
Doch das änderte nichts an dem Gefühl des Betrugs, den er empfand. Ebenso wenig wie an dem Gedanken, dass er es war, der ihren Tod zu verantworten hatte.
Der vorherrschenden Stimmung zum Trotz war der Smog über der Stadt am Tag von Nioves Beisetzung heller erleuchtet als sonst. Oberhalb der Schmutzwolken musste strahlender Sonnenschein sein. In den Gemütern der Trauernden dagegen herrschte finsterste Nacht.
Die Gäste maßen den in seinen Rollstuhl gesunkenen Esser mit berechnenden Blicken. Mitleid empfand für die Familie kaum einer, zu sehr war die Emotionslosigkeit in Genen und Gehabe verankert. Man kam, weil die Verstorbene in den hohen Gesellschaftskreisen und dem Center gut bekannt war, und niemand durch sein Fernbleiben riskieren wollte, dass die Sponsorenfamilie ihre Investitionen in diese Bereiche beendete.
Also war die versammelte Menge groß und legte den angemessenen Ernst zu Tage, scherte sich jedoch wenig um den rankenverzierten Sarg, der geschlossen aufgebahrt war. Sie hätten wohl auch wenig Verständnis gehabt für den zweiten Leichnam, der sich darin befand. In seinem eigenen kleinen Behältnis lag Karill, sorgsam auf die Brust seiner Freundin gebettet. Niove hätte gewollt, dass der Spatz diese letzte Etappe mit ihr antrat.
Esser starrte vor sich hin, nahm weder Notiz von seinen Söhnen, die rechts und links von seinem Stuhl standen, noch von den Heuchlern um ihn herum. In der kurzen Zeit seit Nioves Tod war er nicht nur innerlich um Jahrzehnte gealtert. Sein Gesicht war eingefallen, die Hände, die in seinem Schoß gefaltet lagen, waren knochig und bleich.
Zwei Wächtern gleich standen Zarail und Erran hinter ihrem Vater, ebenso erschöpft und blass wie er, den stummen Groll aufeinander noch nicht überwunden. Irela war nicht mitgekommen, wofür Zarail ebenfalls seinem Bruder die Schuld gab.
Wortlos beobachteten die Anwesenden, wie der Mechanismus aktiviert wurde und der schwarze Sarg sich in Bewegung setzte. Erran spannte die Muskeln an, als die Flammen des Krematoriums das Behältnis aus brennbarem Kunststoff erreichten, in dem die sterblichen Überreste seiner Schwester lagen. Aber er wusste um die Irrationalität seines Impulses – was von Niove übrig war, hatte er gesehen. Es bestand nicht die geringste Möglichkeit, dass sie irrtümlich lebendig verbrannt wurde. Ihr Chip war bereits aus dem System gelöscht. Für den Rest der Welt war es, als hätte sie nie existiert.
Unbemerkt in dem allgemeinen Gedränge befanden sich auch zwei ungeladene Gäste.
Atlan stand abseits, unfähig dem Toben des Feuers zuzusehen, das Niove verschlang, doch überzeugt, ihr seine Anwesenheit bei diesem Ereignis schuldig zu sein. Trost fand er nur in dem Gedanken, dass Millionen ihrer Partikel durch den Kaminschacht aufstiegen und sich mit dem allgegenwärtigen Smognebel vereinten. Er fragte sich, ob das der Himmel war, von dem im Neuen Testament gesprochen wurde.
In ein schlichtes, schwarzes Gewand gehüllt stand Xenos dagegen inmitten der Menge, seine Vermummung von den anderen als Demonstration nicht gefühlter Trauer interpretiert. Auch er fühlte an diesem Tag sein Alter schwer auf sich lasten, dennoch stand er umso aufrechter, seine Schwäche verleugnend. Seine unter dem Stoff verborgenen Narben leuchteten weiß gegen die vom Schrubben gerötete Haut, seine Kleider und Schuhe waren sauber und neu. Niemand hätte in ihm etwas anderes vermutet als ein exzentrisches Mitglied der elitären Schicht.
Als der Sarg und sein Inhalt schließlich zu Asche zerfielen, hatten sich die Trauergäste bereits lautlos zurückgezogen. Nur Esser saß weiterhin vor der Brüstung und starrte in die sterbenden Flammen, flankiert von seinen verbliebenen Nachkommen, die nicht wagten, ihn allein zu lassen.
9. Kapitel
Atlan war froh, unter den Bittstellern seit dem Bekanntwerden von Nioves Ermordung keine Puristen mehr zu finden. Von den Festen, die Haron mit den von ihr erbeuteten Lebensmitteln in der Unterstadt veranstalten ließ, ahnte er nichts. Er nahm – nicht ganz unbegründet – an, dass einige von ihnen das Gesicht auf den Bildschirmen ebenso erkannt hatten wie ein paar der Gläubigen und deshalb mit ihresgleichen lieber fernblieben.
Er war dankbar für diesen Umstand, denn er wusste nicht, wie er den Reinen hätte gegenübertreten sollen. Die Zeit verging, ohne dass der Schmerz in seinem Inneren nachzulassen schien. Seine Tage
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