Das Unkrautland | Auf den Spuren der Nebelfee
unsichtbaren Hand getragen. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Und das war noch lange nicht alles. Schon kurz darauf fing der Stein an sich langsam in der Luft zu bewegen. Er drehte sich gemächlich um die eigene Achse, bis die Spitze genau nach unten zeigte. In diesem Moment war die andächtige Stille im Raum schon wieder vorüber.
»Das ist das falsche Ende«, sagte Plim zickig und stellte sich vor das Fenster. Sofort polterte der Stein auf den Fußboden.
»Was soll denn das nun schon wieder heißen?«, rief Primus empört. »Hast du denn nicht gesehen, was der alles kann? Nicht nur, dass er ab und zu leuchtet – er kann sogar fliegen!«
Plim packte das Einmachglas und tippte mit dem Zeigefinger dagegen: »Auf jeden Fall kann ich ihn nicht gebrauchen.« Und mit deutlichen Worten fügte sie hinzu: »Was für dich bedeutet, dass du in den Topf kommst.«
Genau in diesem Moment schlug hinter ihr die Pendeluhr Mitternacht. Plim zuckte erschrocken zusammen und wandte sich um. Aus nächster Nähe sah sie Bucklewhee direkt in die Augen. Pünktlich saß dieser auf seinem ausgefahrenen Scherengitter und blickte sie fragend an. Plim klappte der Kiefer herunter. Für eine Sekunde herrschte Totenstille. Dann aber präsentierte ihr Bucklewhee von Angesicht zu Angesicht den lautesten und wohl rekordverdächtigsten Weckschrei, den er je von sich gegeben hatte.
Plim standen die Haare zu Berge. Mit einem Schlag wurde sie kreidebleich. Bucklewhee brüllte aus voller Kehle, so laut er nur konnte. Wie vom Blitz getroffen schleuderte sie das Einmachglas gegen die Decke, um sich mit beiden Händen die Ohren zuzuhalten. Klirrend schlug das Glas gegen den Dachbalken und ging in Scherben.
Plim fuhr herum. In Panik wollte sie die Flucht ergreifen, aber da stand Primus auch schon in voller Größe hinter ihr. Plim blieb fast das Herz stehen, als sie ihn sah. Mit einem teuflischen Grinsen blickte er sie an und sagte kurz:
»BUHHH!«
Das Kreischen, das Plim von sich gab, ließ die Fensterscheiben klirren.
Primus packte sie an den Schultern, drehte sie herum und schob sie zur Wand.
»So, mein Fräulein«, zischte er, »jetzt werden wir uns einmal ein wenig unterhalten.«
Er hatte größte Mühe, die wild strampelnde Plim in die Truhe zu stopfen, aber schließlich hatte er es doch noch geschafft. Schnell machte er den Deckel zu und hockte sich drauf. Bucklewhee hatte sich bei Plims Gekreische gleich wieder in seine Uhr verkrochen. Aber dennoch durfte er sich nichts entgehen lassen. Neugierig streckte er seinen Kopf aus der Klappe.
Primus saß triumphierend auf der wackelnden Truhe, aus der dumpfes Geschrei gemischt mit bösesten Beschimpfungen und Flüchen kam. Nur langsam ließ das Poltern in der Kiste nach und Plims Gekreische wich einem mitleiderregenden Wimmern.
»Plim«, sagte Primus, »ist es jetzt gut? Hat sich Madame nun endlich beruhigt?«
Es kam keine Antwort.
Dagegen ertönte weiteres Stampfen und Schreien: »Lass mich sofort hier RAUUUS!«
Primus nickte verständnisvoll. »Also, liebe Plim, jetzt sei mal nicht undankbar. Du weißt ja gar nicht, wie bequem du es in dieser schönen Kiste hast. Die ist geradezu komfortabel. Stell dir einmal vor, du würdest dort drin auf dem Kopf stehen und hättest ein paar dicke, alte Kröten neben dir sitzen, die dich auslachen.«
»Ich dachte, du wärst eine gewöhnliche Fledermaus!«, rief sie. »Ich habe dir doch gar nichts getan.«
»Weißt du«, sagte er nachdenklich, »zuerst wolltest du mich kochen – von dem Schlag mit der Fliegenklatsche einmal abgesehen. Aber damit nicht genug. Du fliegst einfach mit deinem stinkenden Besen in meinem Wohnzimmer umher, klaust meine Zeitung und lässt meine Leselampe durch das Zimmer schweben. Ich finde, du bist eindeutig eine Gefahr für die Umwelt, und alle sollten mir dankbar sein, dass ich dich hier entsorgt habe.«
Sofort folgten neues Fluchen und übelstes Geschimpfe. Aber schon nach wenigen Minuten endete es in leisem Gewinsel.
»Ich mache dir jetzt ein Angebot«, rief Primus durch den Deckel. »Ich lasse dich aus der Truhe und du beantwortest mir einige Fragen. Solltest du dabei aber unangenehm auffallen, wie zum Beispiel beißen oder kratzen, dann geht es – schwups – wieder in die gemütliche Truhe zurück. Na, was hältst du davon?«
Keine Reaktion.
Er klopfte auf den Deckel. »Plim? Hallo?! Hast du mich gehört?«
»Na gut«, kam es schmollend hervor.
Primus sprang von der Kiste und klappte den Deckel auf.
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