Das unsichtbare Grauen
nicht, sah ihnen nur ruhig entgegen und zog dann mit fast zeitlupenhaft langsamer Bewegung ein Kettchen am linken Oberarm. Ein fast unhörbares Zischen erfolgte. Aus einer im Anzug verborgenen Spraykapsel sprühte eine ölige Substanz, die für einige Zeit Geruch und Sehkraft der Hunde beeinträchtigte und ihnen damit jegliche Angriffslust raubte. Winselnd und jaulend zogen die schlanken Bestien ab. Sandra hatte Zeit gewonnen.
Der Elektrozaun bot keine Schwierigkeiten. Zu Sandras Ausrüstung gehörte ja auch die Spezial-Armbanduhr mit Minisender und Ministrahler, mit dessen Hilfe man kurzfristig ein Anti-Magnetfeld erzeugen konnte: für 20
Sekunden floß an der bestrahlten Stelle kein Strom durch den Draht. Lange genug, um Sandra Gelegenheit zu geben, diesen Zaun zu überwinden. Dann stand sie im Innern des Werkgeländes und schlich im Schatten der Hallen zu dem Gebäude, in dem sie Dr. Brauns Büro und Labor untergebracht wußte.
Vom Erdgeschoß her war ein Eindringen schwierig. Das Schloß würde zwar zu öffnen sein, aber es bedurfte einer Zeit von mindestens einer halben Stunde. Darum verzichtete Sandra auf diesen Weg. Statt dessen ging sie lautlos zur Rückseite des Gebäudes, wickelte das Nylonseil von der Taille, an dessen Ende scharfe Haken befestigt waren, und schwang es wie ein Lasso über dem Köpf. Dann ließ sie es aus, und das Ende sauste aufwärts, die 'Haken fraßen sich ins Holz eines Fenstersims im ersten Stock.
Nun war es reine Bergsteigerei, am Seil emporzuklimmen und endlich auf dem Fenstersims zu kauern, um mit Hilfe einer Drahtschlinge durch die Ritze zu greifen und den Riedel von innen zu öffnen. Aufatmend glitt Sandra King in das dahinter befindliche Zimmer und zog das Fenster hinter sich zu. Die Tür des Raumes war unverschlossen. Sandra trat auf den Flur, ging zur Treppe und schlich hinunter. Dr. Brauns Arbeitszimmer war verschlossen, aber es handelte sich um ein verhältnismäßig einfaches Sicherheitsschloß, das Sandra noch nicht mal eine halbe Minute Widerstand bot. Dann öffnete sie die Tür und konnte das Zimmer des Chemikers betreten.
Sie wußte nicht genau, wonach sie eigentlich suchte. Sie verließ sich auf ihren Instinkt und ihr Glück. Vielleicht war im stählernen Aktenschrank, dort hinten etwas Wissenswertes verborgen? Doch der Schrank war nicht mal verschlossen, konnte also kaum Geheimnisse bergen. Dennoch sah Sandra die Aktendeckel durch. Aber außer seitenlangen chemischen Formeln, bezahlten Rechnungen und den Verkaufsangeboten der chemischen Industrie fand sie nichts, was sie interessiert hätte.
Sie schloß den Aktenschrank wieder und machte sich an Dr. Brauns Schreibtisch. Aber auch dort wurde sie nicht fündig. Achselzuckend richtete sie sich auf und öffnete die schmale Verbindungstür zum benachbarten Büro, offensichtlich das Arbeitszimmer von Aimee Stämpfli, Dr. Brauns schöner Assistentin und Geliebten. Ein hübscher Bauernschrank stand da, darin einige weiße Kittel, eine gemütliche Sitzecke und der Schreibtisch. Das war alles.
Sandra machte sich über den Schreibtisch her. Sie öffnete die mittlere Lade - und hielt den Atem an. Da war ein Foto, das Aimee Stämpfli zeigte, und an ihrer Seite Patricia Braun, die 18jährige Tochter Dr. Henri Brauns und seiner geschiedenen Frau Ludmilla Anderson. Die spurlos verschwundene Pat und Aimee Stämpfli! An sich war das noch nichts Besonderes. Aber das Foto zeigte im Hintergrund blühende Bäume und den blau schimmernden Zürichsee.
Patricia aber war verschwunden, als noch Winter war. Dieses Foto konnte keine Woche alt sein!!
Ein Geräusch ließ Sandra herumfahren. Die Tür vom Korridor bewegte sich, öffnete sich dann langsam. Sandra sah es, war auf einen Angriff gefaßt und erwartete jede Sekunde, einen Schatten auf sich springen zu sehen. Doch die Tür öffnete sich nur immer weiter, aber niemand wurde sichtbar...
Plötzlich war da ein kräftiger Luftzug. Sandra King erhielt einen dumpfen Schlag über den Hinterkopf und sank bewußtlos zu Boden.
Violette Schleier, kriechende Kälte, eine Stimme, das alles mixte sich zu einem seltsamen Cocktail. Es dauerte einen Augenblick, bis die Agentin richtig zu sich kam und die Augen öffnete. Vor sich sah sie die Lichterkette der Uferpromenade. Neben sich erkannte sie den Chefkellner des »Baur au Lac«. Unter sich spürte sie die nächtliche Kälte der Hotelterrasse.
»Wird Ihnen nicht zu kalt, Madame?« fragte der Chefkellner.
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