Das unvollendete Bildnis
schüttelte schließlich bedauernd den Kopf.
«Diese Person, diese Miss Greer, war böse, rachsüchtig. Dazu war sie hemmungslos, aber sie hat ja den lebenden Mr Crale haben wollen, der tote nützte ihr nichts. Sie wollte, dass Mrs Crale an den Galgen käme, weil der Tod ihr ihren Liebsten vor der Nase weggeschnappt hatte. Sie war wie eine enttäuschte Tigerin!
Auch Mr Philip Blake war gegen Mrs Crale. Er war voreingenommen und versuchte ihr zu schaden, wo er nur konnte. Aber ich muss zugeben, dass er, soweit man das beurteilen kann, ehrlich war. Mr Crale war sein bester Freund.
Sein Bruder, Mr Meredith Blake – ein schlechter Zeuge, zerstreut, zögernd –, schien nie genau zu wissen, was er antworten sollte. Ich kenne diese Art Zeugen, sie machen den Eindruck, als ob sie lügen, obwohl sie die Wahrheit sagen. Mr Meredith Blake wollte möglichst wenig sagen, und gerade darum sagte er umso mehr. Er ist einer jener ruhig wirkenden Herren, die leicht in Panik geraten.
Die Gouvernante dagegen verschwendete kein Wort; ihre Aussage war klar, kurz und bündig. Man konnte nicht erkennen, für wen sie war; aber jedenfalls hatte sie ihren Verstand beisammen.»
Er hielt einen Augenblick inne.
«Ihr würde ich zutrauen, dass sie mehr wusste, als sie aussagte.»
«Ich auch», sagte Poirot und betrachtete prüfend das schlaue, runzlige Gesicht von Mr Alfred Edmunds.
Das Gesicht blieb unbeweglich, doch Hercule Poirot war überzeugt, einen wertvollen Wink erhalten zu haben.
4
M r Caleb Jonathan wohnte in Essex. Nach einem höflichen Briefwechsel erhielt Poirot eine fast fürstliche Einladung zum Abendessen mit Übernachtung. Der alte Herr war eine ausgesprochene Persönlichkeit und wirkte nach der etwas unbestimmten, verschwommenen Art des jungen George Mayhew wie köstlicher Portwein. Er hatte seine eigene Methode, ein Thema zu behandeln, und erst gegen Mitternacht, bei einem Glas ausgezeichneten alten Brandy, ging er aus sich heraus. Offensichtlich schätzte er es, dass Hercule Poirot höflicherweise nicht drängte, und war nun bereit, über die Familie Crale zu sprechen.
«Unsere Firma hat schon für mehrere Generationen der Familie gearbeitet. Ich kannte Amyas Crale und seinen Vater, Richard Crale, und ich kann mich auch noch gut an Enoch Crale, den Großvater, erinnern. Alle waren sie typische Landedelleute und kümmerten sich mehr um Pferde als um Menschen. Sie waren ausgezeichnete Reiter, liebten die Frauen und belasteten ihr Hirn nicht mit Ideen. Sie misstrauten Ideen.
Aber Richard Crales Frau – die hatte Ideen; sie hatte mehr Ideen als Verstand. Sie war poetisch veranlagt und sehr musikalisch – ich glaube, sie spielte Harfe. Sie war kränklich und nahm sich auf dem Sofa sehr dekorativ aus.
Amyas Crale war das Produkt dieses gegensätzlichen Elternpaares. Von seiner schwächlichen Mutter erbte er den künstlerischen Einschlag, vom Vater seine Tatkraft, seinen brutalen Egoismus. Alle Crales waren Egoisten. Für sie gab es immer nur ihren eigenen Gesichtspunkt.»
Der alte Herr blickte Poirot verschmitzt an.
«Ich glaube, Monsieur Poirot, Sie interessieren sich vor allem für die Charaktere der Menschen, nicht wahr?»
«Ja, das interessiert mich am meisten», bestätigte Poirot.
«Das kann ich verstehen. Die wahre Natur eines Verbrechers ergründen. Sehr interessant. Wir haben uns nie mit Strafsachen befasst und waren deshalb nicht zuständig für Mrs Crale, selbst wenn wir gewollt hätten. Aber auch ihr Anwalt hat leider nicht erkannt, dass Caroline nie ihre Rolle so spielen würde, wie er sie ihr zugedacht hatte. Sie war nicht für dramatische Effekte.»
«Wofür war sie denn?», fragte Poirot. «Das interessiert mich am meisten.»
«Sie meinen, wieso sie es getan hat? Das ist wirklich die Frage. Ich kannte sie schon vor ihrer Ehe. Ihr Mädchenname war Spalding. Sie war ein heftiges, unglückliches Geschöpf. Ihre Mutter war schon früh verwitwet, und Caroline hing sehr an ihr. Dann heiratete die Mutter wieder und bekam noch ein Kind. Ja, ja, das war sehr traurig, sehr schmerzlich. Diese jugendliche, peinigende Eifersucht!»
«Sie war eifersüchtig?»
«Und wie! Und es gab einen betrüblichen Vorfall. Die Arme, sie hat ihn bitterlich bereut. Aber Sie wissen ja, Monsieur Poirot, solche Dinge geschehen. Zurückhaltung übt man erst in reiferen Jahren.»
«Was ist geschehen?», fragte Poirot.
«Sie hat dem Kind, ihrer Halbschwester, einen Briefbeschwerer an den Kopf geworfen. Das Kind verlor ein
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