Das unvollendete Bildnis
Auge und war für immer entstellt.»
Mr Jonathan seufzte.
«Sie können sich vorstellen, welche Wirkung die Erwähnung dieses Ereignisses bei der Verhandlung hervorrief.»
Er schüttelte den Kopf.
«Es wurde der Eindruck erweckt, Caroline Crale besitze ein ungezügeltes Temperament. Und das stimmte nicht. Nein, das stimmte nicht.»
Nach einer kleinen Pause fuhr er fort:
«Caroline Spalding war oft in Alderbury zu Besuch. Sie ritt gut und war schneidig. Richard Crale mochte sie sehr. Sie zeigte sich auch geschickt und freundlich und kümmerte sich viel um Mrs Crale, die das Mädchen ebenfalls gern hatte. Caroline fühlte sich zuhause nicht glücklich, wohl aber in Alderbury. Sie war mit Diana, Amyas’ Schwester, sehr befreundet, und auch mit Philip und Meredith Blake, Jungens vom Nachbargut, die häufig nach Alderbury kamen.
Philip war von jeher ein ekelhafter, geldgieriger Bengel; ich muss gestehen, dass ich ihn nie habe ausstehen können. Aber es heißt, dass er gut Witze erzählen kann und ein zuverlässiger Freund sei. Meredith hingegen war eher ein Träumer; er interessierte sich für Botanik und Schmetterlinge und Vögel und alles mögliche Getier.
Ach ja, all diese jungen Leute waren eine Enttäuschung für ihre Väter. Keiner entsprach ihrem Ideal: jagen, reiten, fischen. Meredith beobachtete lieber die Tiere, als sie zu jagen, und Philip zog die Stadt dem Landleben entschieden vor und widmete sich hauptsächlich dem Geldverdienen. Diana heiratete einen Burschen, der kein Gentleman war, einen dieser Offiziere, und Amyas schließlich, ausgerechnet der kräftige, gut aussehende, männliche Amyas wurde Maler. Meiner Ansicht nach ist Richard Crale aus Kummer darüber gestorben.
Und eines Tages heiratete Amyas seine Jugendfreundin Caroline Spalding. Sie hatten sich immer schon gekabbelt, aber es war dennoch eine Liebesheirat. Sie waren ganz besessen voneinander, und so blieb es auch.
Aber wie alle Crales war Amyas ein hemmungsloser Egoist. Er liebte Caroline, doch er nahm nie Rücksicht auf sie. Er tat nur, was ihm gefiel. Meiner Ansicht nach liebte er sie so sehr, wie er einen Menschen überhaupt lieben konnte – aber seine Kunst war ihm weit wichtiger. Seine Kunst war ihm das höchste; keine Frau war ihm je wichtiger als sie. Er hatte unzählige Liebesgeschichten – das inspirierte ihn –, aber er ließ jede Frau rücksichtslos sitzen, wenn sie ihn nicht mehr interessierte. Die einzige Frau, die ihm wirklich etwas bedeutete, war seine Frau.
Und weil sie das wusste, nahm sie vieles hin. Von jedem Liebesabenteuer kam er ja auch wieder zu ihr zurück – meist mit einem neuen Bild. Er war ein großer Maler, und sie respektierte seine Kunst.
So wäre es wohl weitergegangen, wenn nicht Elsa Greer aufgetaucht wäre. Elsa Greer…»
Er schüttelte den Kopf.
«Was war mit Elsa Greer?»
Überraschend murmelte der alte Herr statt einer Antwort:
«Armes Kind… Armes Kind!»
«So denken Sie über sie?»
«Ich bin ein alter Mann, und das ist vielleicht der Grund, dass mich die Jugend in ihrer oft hemmungslosen Grausamkeit manchmal zu Tränen rührt.»
Er stand auf, nahm ein Buch aus dem Regal, blätterte darin und las dann vor:
«‹ Wenn deine Liebe tugendsam gesinnt
Vermählung wünscht, so lass mich morgen wissen
Durch jemand, den ich zu dir senden will,
Wo du und wann die Trauung willst vollziehn.
Dann leg ich dir mein ganzes Glück zu Füßen
Und folge durch die Welt dir, mein Gebieter. ›
Auch in Julias Worten ist die Liebe innig mit der Jugend verbunden. Keine Schüchternheit, keine Zurückhaltung, keine so genannte jungfräuliche Sittsamkeit. Es ist der Mut, die Hartnäckigkeit, die grausame Kraft der Jugend. Shakespeare kannte die Jugend. Julia wählte Romeo, Desdemona verlangte Othello. Sie hatten keine Zweifel, diese Jugend kannte keine Furcht.»
«Für Sie sprach also Elsa Greer mit Julias Worten?», fragte Poirot nachdenklich.
«Ja. Sie war ein vom Glück verwöhntes Kind, sie war jung, schön, reich. Sie fand den Mann, nach dem sie sich sehnte, und sie verlangte ihn – es war kein junger Romeo, es war ein verheirateter, keineswegs mehr junger Maler. Elsa Greer hatte keinen Sittenkodex, der sie hemmte; für sie galt das moderne: ‹Nimm, was du willst – wir leben nur einmal!›»
Seufzend lehnte sich Mr Jonathan zurück.
«Sie war eine raubgierige Julia, jung, erbarmungslos, aber sehr verwundbar. Tollkühn setzte sie alles auf eine Karte. Und als sie anscheinend
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