Das unvollendete Bildnis
schon gewonnen hatte… da, im letzten Moment, kam der Tod, und auch die lebendige, feurige, fröhliche Elsa starb. Zurück blieb nur eine rachsüchtige, kalte, harte Frau, die aus ganzer Seele die Frau hasste, die den Tod ihres Geliebten herbeigeführt hatte.»
Er hielt inne und sprach dann mit veränderter Stimme weiter. «Entschuldigen Sie bitte diese sentimentale Abschweifung. Ein grausames junges Mädchen mit einer grausamen Lebensauffassung, aber ein interessanter Charakter. Strahlende Jugend! Wenn sie vorbei ist, was bleibt übrig? Eine mittelmäßige Frau, die ihr Leben lang nach einem neuen Helden sucht, um ihn auf das leer gewordene Piedestal zu stellen.»
«Wenn Amyas Crale kein berühmter Maler gewesen wäre…», warf Poirot ein.
«Sehr richtig, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Die heutigen Elsas sind Heldenverehrerinnen – ein Mann muss etwas vollbracht haben, muss jemand sein… Caroline Crale hätte auch in einem Bankbeamten oder einem Versicherungsagenten verborgene Qualitäten entdecken können. Sie liebte den Menschen Amyas Crale, nicht den Maler Amyas Crale. Caroline Crale war nicht grausam – Elsa Greer war es… Aber sie war jung und schön und unendlich rührend.»
Nachdenklich ging Poirot zu Bett; es beschäftigte ihn, wie unterschiedlich die beiden Frauen beurteilt wurden.
5
M r Hale, Superintendent a. D. zog bedächtig an seiner Pfeife und sagte schließlich:
«Eine merkwürdige Liebhaberei haben Sie, Monsieur Poirot.»
«Es ist vielleicht etwas ungewöhnlich», stimmte Poirot vorsichtig zu.
«Der Fall liegt schon so lange zurück.»
Obwohl Poirot diese Feststellung allmählich auf die Nerven ging, erwiderte er sanft:
«Das macht natürlich alles schwieriger.»
«Die Vergangenheit aufwühlen…», sagte Hale sinnend. «Wenn es wenigstens einen Zweck hätte!»
«Es hat einen Zweck.»
«So?»
«Man kann aus Liebe zur Wahrheit die Wahrheit suchen. Und das tue ich. Und dann dürfen Sie die junge Dame nicht vergessen.»
Hale nickte.
«Ja, ich kann es ihr nachfühlen. Aber, entschuldigen Sie, Monsieur Poirot, Sie sind doch ein einfallsreicher Mann, Sie könnten ihr doch einfach eine Geschichte erzählen.»
«Sie kennen die junge Dame nicht», erwiderte Poirot.
«Aber… ein Mann wie Sie!»
Poirot richtete sich auf.
« Mon cher, ich mag ein vollendeter Lügner sein… Sie scheinen mich dafür zu halten. Aber die Lüge lässt sich nicht mit meinen Begriffen von Ethik vereinbaren. Ich habe meine Prinzipien.»
«Entschuldigen Sie, Monsieur Poirot, ich wollte nicht Ihre Gefühle verletzen, aber es wäre doch sozusagen ein gutes Werk.»
«Davon bin ich nicht einmal so überzeugt.»
«Es ist natürlich bitter, wenn ein unschuldiges, glückliches Mädchen in dem Augenblick, da es sich verheiraten will, erfährt, dass seine Mutter eine Mörderin war. Ich an Ihrer Stelle würde Miss Crale sagen, dass es sich tatsächlich um Selbstmord gehandelt habe. Sagen Sie ihr, dass Depleach den Fall schlecht geführt habe, sagen Sie ihr, Sie seien fest davon überzeugt, dass Crale sich vergiftet habe.»
«Aber das halte ich für höchst unwahrscheinlich! Ich glaube nicht eine Sekunde, dass Crale sich vergiftet hat. Glauben Sie das etwa?»
Hale schüttelte bedächtig den Kopf.
«Verstehen Sie denn nicht?», fuhr Poirot fort. «Ich muss die Wahrheit finden, nicht eine wenn auch noch so plausible Lüge.»
Hale, dessen grob geschnittenes rotes Gesicht noch röter wurde, blickte Poirot fest an und sagte schließlich:
«Sie sprechen von Wahrheit. Ich erkläre Ihnen hiermit, dass wir überzeugt sind, im Falle Crale der Wahrheit zu ihrem Recht verholfen zu haben.»
«Diese Erklärung ist für mich ungemein wichtig», entgegnete Poirot rasch. «Ich weiß, dass Sie ein ehrlicher und fähiger Mann sind. Aber sind Ihnen nie Zweifel an Mrs Crales Schuld gekommen?»
Die Antwort erfolgte prompt.
«Auch nicht der geringste Zweifel, Monsieur Poirot. Von Anfang an deuteten alle Umstände auf sie hin, und alle Tatsachen, die wir später entdeckten, bestätigten diese Ansicht.»
«Können Sie mir einen Überblick über das Anklagematerial geben?»
«Ja. Als ich Ihren Brief erhielt, habe ich die Akten noch einmal durchgesehen.» Er nahm ein Notizbuch vom Tisch. «Ich habe die wichtigsten Punkte zusammengestellt.»
«Ich danke Ihnen, lieber Freund, ich bin höchst gespannt.»
Hale räusperte sich und begann dann in amtlichem Ton:
«Am 18. September um 2.45 Uhr nachmittags wurde Inspektor
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