Das unvollendete Bildnis
läutete, sagte er, er komme nicht mit; er wolle hier bleiben, und man brauche ihm auch nichts zu schicken. Auch das war nichts Ungewöhnliches, und außerdem brauchte er so nicht mit Caroline am Tisch zu sitzen. Er sprach etwas merkwürdig; es war eigentlich mehr ein Grunzen zu nennen; aber auch das pflegte er öfter zu tun, wenn er mit seiner Arbeit nicht zufrieden war. Selbst als Meredith kam, um mich zu holen, knurrte er lediglich, als Meredith ihn etwas fragte.
Meredith und ich gingen also zusammen zum Haus und ließen ihn zurück. Wir ließen ihn dort… ließen ihn allein sterben. Ich hatte noch nicht viel von Krankheiten gesehen; ich verstand nichts davon, und so glaubte ich, Amyas hätte nur eine seiner Künstlerlaunen. Wenn ich etwas geahnt hätte, hätte man ihn vielleicht noch retten können… Mein Gott, warum habe ich nichts getan? Aber es hat ja keinen Zweck, jetzt noch darüber zu grübeln. Ich war blind, blind und dumm.
Weiter ist nicht viel zu berichten.
Caroline und die Gouvernante gingen nach dem Essen zur Schanze hinunter; Meredith folgte ihnen, kam aber nach kurzer Zeit zurückgelaufen mit der Nachricht, dass Amyas tot sei. Ich wusste sofort Bescheid – ich war sicher, dass Caroline es getan hatte. Ich dachte nicht an Gift, ich glaubte, sie habe ihn, als sie eben hinuntergegangen war, erschossen oder erstochen.
Ich wollte sie umbringen…
Wie konnte sie das nur tun, wie konnte sie? Er war so lebendig, so erfüllt von Leben und Kraft. Und all das musste sie vernichten, nur damit ich ihn nicht haben sollte!
Grässliches Weib!
Grässliches, ekelhaftes, grausames, rachsüchtiges Weib!
Ich hasse sie! Ich hasse sie immer noch!
Sie haben sie nicht einmal gehängt!
Sie hätten sie hängen müssen!
Selbst hängen wäre noch zu gut für sie gewesen!
Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!
4
Bericht von Cecilia Williams
S ehr geehrter Monsieur Poirot,
beiliegend sende ich Ihnen einen Bericht über die Erei g nisse, die sich im September 19… abgespielt haben und deren Zeugin ich war.
Ich habe nichts beschönigt und nichts verschwiegen, Sie können den B e richt Carla Crale zeigen. Es wird sie schmerzen, aber ich war stets für die Wahrheit. Beschönigungen sind nur schädlich; man muss den Mut haben, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen. Am meisten schaden uns jene Menschen, die uns vor der Wirklic h keit schützen wollen. Mit verbindl i chen Grüßen
Ihre Cecilia Williams
Ich heiße Cecilia Williams. Ich wurde im Jahre 19… von Mrs Crale als Gouvernante für ihre Halbschwester Angela Warren engagiert. Ich war damals achtundvierzig Jahre alt.
Ich trat meinen Dienst auf Alderbury an, einem wunderschönen Besitz im Süden von Devonshire, der seit Generationen der Familie Crale gehörte. Ich wusste, dass Mr Crale ein sehr bekannter Maler war, habe ihn persönlich aber erst in Alderbury kennen gelernt.
Der Haushalt bestand aus Mr und Mrs Crale, ihrer kleinen Tochter Carla, Angela Warren, dreizehn Jahre alt, und drei Dienstboten, die schon seit Jahren dort arbeiten.
Ich stellte sofort fest, dass mein Zögling einen interessanten und vielversprechenden Charakter hatte. Angela war sehr begabt, und es war eine Freude, sie zu unterrichten. Sie war zwar wild und ungebärdig, aber diese Fehler sind meist die Folge eines aufgeweckten Wesens, und aufgeweckte Kinder waren mir stets lieber. Übermäßige Lebhaftigkeit kann sich, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt, positiv auswirken.
Alles in allem fand ich Angela leicht erziehbar. Sie wurde zwar ziemlich verwöhnt, hauptsächlich von Mrs Crale, die viel zu nachsichtig mit ihr war. Mr Crales Verhalten ihr gegenüber fand ich nicht sehr klug: An einem Tag war er unvernünftig duldsam und am nächsten übertrieben streng. Er war ein launenhafter Mensch, was man bei einem Künstler oft durch sein Talent zu entschuldigen pflegt; aber ich habe nie eingesehen, warum künstlerisches Talent eine Entschuldigung für Unbeherrschtheit sein soll. Außerdem gefiel mir Mr Crales Malerei nicht. Die Zeichnung kam mir falsch vor, und die Farben fand ich zu grell, aber natürlich wurde ich nie aufgefordert, meine Meinung zu äußern.
Ich empfand bald eine tiefe Sympathie für Mrs Crale, und ich bewunderte ihren Charakter und ihre Haltung angesichts ihrer schwierigen Lage. Mr Crale war ein treuloser Ehemann, und ich glaube, dass das eine ständige Quelle großen Leids für sie war. Eine Frau mit einem stärkeren Charakter hätte ihn
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