Das unvollendete Bildnis
Terrasse war ein kleines Treibhaus, das nicht mehr für seinen ursprünglichen Zweck benutzt wurde, sondern in eine Art Bar verwandelt worden war, und dort, in einem kleinen Kühlschrank, lagen stets einige Flaschen Bier.
Ich ging mit Mrs Crale in das Treibhaus, um Bier zu holen, und fand Angela, wie sie gerade eine Flasche Bier aus dem Eisschrank nahm. Mrs Crale, die vor mir eingetreten war, sagte:
«Ich will Amyas eine Flasche hinunterbringen.»
Es ist für mich jetzt schwer zu entscheiden, ob ich Verdacht hätte schöpfen sollen. Ihre Stimme war völlig normal, und ich interessierte mich in dem Moment mehr für Angela, die beim Eisschrank stand und zu meiner Genugtuung schuldbewusst aussah. Ich wies sie scharf zurecht, was sie erstaunlicherweise geduldig über sich ergehen ließ. Als ich sie fragte, wo sie gewesen sei, und sie mir antwortete, sie sei schwimmen gegangen, sagte ich:
«Ich habe dich aber am Strand nicht gesehen.»
Sie lachte nur. Dann fragte ich, wo sie ihren Pullover habe, und sie antwortete, den müsse sie am Strand liegen gelassen haben.
Ich erwähne diese Einzelheiten nur, um zu erklären, warum ich es zuließ, dass Mrs Crale das Bier selbst zur Schanze brachte. Über den Rest des Morgens weiß ich nur noch wenig. Ohne weitere Widerrede nähte Angela an ihrem Rock, und ich besserte, soweit ich mich erinnere, Wäsche aus. Mr Crale kam nicht zum Essen; ich war froh, dass er wenigstens so viel Anstand besaß.
Als Mrs Crale nach dem Essen sagte, sie ginge hinunter zur Schanze, begleitete ich sie, da ich Angelas Pullover am Strand suchen wollte. Nachdem ich schon ein paar Schritte weitergegangen war, hörte ich einen Schrei, und gleich darauf rief mich Mrs Crale zurück. Wie ich Ihnen schon bei Ihrem Besuch sagte, schickte sie mich, den Arzt anzurufen. Auf halbem Weg traf ich Mr Meredith Blake und ging sofort zu Mrs Crale zurück.
So war meine Aussage bei der Voruntersuchung und vor Gericht.
Was ich nun niederschreibe, habe ich bisher noch keinem Menschen gesagt. Da ich danach nicht gefragt wurde, brauchte ich nicht die Unwahrheit zu sagen. Ich habe mich jedoch schuldig gemacht, weil ich etwas verschwieg, aber ich bereue es nicht und würde es sogar wieder tun.
Wie ich schon sagte, begegnete ich auf dem Weg zum Haus Mr Meredith Blake und eilte dann zur Schanze zurück. Da ich Leinenschuhe trug, hörte man meine Schritte nicht. Die Pforte zur Schanze stand auf, und ich sah, dass Mrs Crale die Bierflasche auf dem Tisch mit ihrem Taschentuch abwischte. Dann nahm sie die Hand ihres toten Gatten und presste seine Finger auf die Bierflasche. Die ganze Zeit über lauschte sie ängstlich, ob jemand käme. Und die Furcht auf ihrem Gesicht sagte mir die Wahrheit.
Daher weiß ich ganz bestimmt, dass Caroline Crale ihren Gatten vergiftet hat. Ich kann ihr keinen Vorwurf daraus machen. Sein schändliches Verhalten konnte einen Menschen um den Verstand bringen, und somit hatte er sein Schicksal selbst heraufbeschworen.
Wie schon gesagt, habe ich keinem Menschen, auch nicht Mrs Crale selbst, etwas von meiner Beobachtung angedeutet, aber ein Mensch hat meiner Ansicht nach das Recht, es zu wissen.
Caroline Crales Tochter darf ihr Leben nicht auf einer Lüge aufbauen. So sehr die Wahrheit sie auch schmerzen mag – Wahrheit ist das höchste Gut.
Sagen Sie ihr bitte von mir, dass niemand ihre Mutter verurteilen darf. Ihr, der liebenden Frau, war zu viel zugemutet worden. Ihre Tochter muss das verstehen und ihr verzeihen.
5
Bericht von Angela Warren
S ehr geehrter Monsieur Poirot,
Ihrem Wunsch entsprechend, habe ich meine Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse, die nun über sechzehn Jahre zurückliegen, niedergeschrieben. Doch erst beim Schreiben wurde mir bewusst, an wie wenig ich mich noch erinnere.
Ich erinnere mich verschwommen an Sommertage, an einzelne, unzusammenhängende Ereignisse, aber ich könnte nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, in welchem Jahr sie geschahen. Amyas’ Tod kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen, und ich scheine nichts von all dem gemerkt zu haben, was dazu führte.
Für mich waren Caroline und Amyas die wichtigsten Personen in meinem Leben, doch ich machte mir weder über sie noch über das, was sie taten, fühlten und dachten, irgendwelche Gedanken. Auch Elsa Greers Besuch beeindruckte mich nicht besonders. Ich fand sie dumm und nicht einmal besonders hübsch. Ich hielt sie für ein reiches, aber lästiges Mädchen,
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