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Das unvollendete Bildnis

Das unvollendete Bildnis

Titel: Das unvollendete Bildnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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verlassen, doch Mrs Crale schien das nie in Erwägung zu ziehen. Sie ertrug seine Untreue und verzieh sie ihm, aber sie war nicht sanft, sie machte ihm heftige Vorwürfe. Bei der Verhandlung wurde behauptet, die beiden hätten wie Hund und Katze miteinander gelebt. Das halte ich für übertrieben, Mrs Crale besaß viel zu viel Würde, als dass man diesen Ausdruck auf sie hätte anwenden können, aber sie hatten heftige Auseinandersetzungen, was unter diesen Umständen nur verständlich war.
    Ich war etwas über zwei Jahre im Hause Crale, als Miss Elsa Greer im Sommer 19… auf der Bildfläche erschien. Mrs Crale kannte sie noch nicht; sie war mit Mr Crale befreundet und es hieß, sie sei gekommen, weil er sie malen wolle.
    Es war von Anfang an offensichtlich, dass Mr Crale in dieses Mädchen verliebt war und dass das Mädchen ihn keineswegs entmutigte. Sie benahm sich meiner Meinung nach ländlich; sie war unverschämt zu Mrs Crale und flirtete ganz ungeniert mit Mr Crale.
    Natürlich äußerte sich Mrs Crale mir gegenüber nicht, aber ich konnte sehen, dass sie litt, und ich tat alles, was in meiner Macht stand, um sie abzulenken und ihre schwere Last zu erleichtern. Miss Greer saß jeden Tag Modell, aber ich stellte fest, dass die Arbeit nicht vom Fleck kam. Offensichtlich hatten die beiden anderes zu tun!
    Mein Zögling bemerkte Gott sei Dank nur wenig von dem, was sich abspielte. In gewisser Beziehung war Angela noch jung für ihr Alter; obwohl geistig sehr entwickelt, war sie in keiner Weise frühreif. Sie versuchte weder verbotene Bücher zu lesen, noch zeigte sie eine besondere Neugier, wie so viele Mädchen ihres Alters. Sie fand an der Freundschaft zwischen Mr Crale und Miss Greer nichts Ungehöriges, konnte aber Miss Greer nicht leiden, denn sie hielt sie für dumm. Womit sie Recht hatte. Miss Greer hatte, so nehme ich wenigstens an, eine gute Schulbildung genossen, las aber nie ein Buch und hatte keinerlei literarische Kenntnisse; man konnte sich über kein intellektuelles Thema mit ihr unterhalten. Sie ging voll und ganz in der Pflege ihres Äußeren auf und interessierte sich überhaupt nur für Kleider und Männer.
    Ich glaube, dass Angela nicht einmal bemerkte, dass ihre Schwester unglücklich war. Sie kümmerte sich damals nicht viel um andere Menschen; den Hauptteil ihrer Zeit verbrachte sie mit allem möglichen Unfug, kletterte auf Bäume und unternahm wilde Radtouren. Auch las sie leidenschaftlich gern und bewies schon damals einen guten literarischen Geschmack.
    Mrs Crale war auch ängstlich besorgt, ihr Unglück vor Angela zu verbergen; sie täuschte in Gegenwart des Mädchens stets gute Laune vor.
    Miss Greer ging dann nach einiger Zeit zurück nach London, worüber wir uns alle sehr freuten. Die Dienstboten konnten sie ebenso wenig leiden wie ich; sie gehörte zu den Menschen, die viel Arbeit verursachen und vergessen, sich dafür zu bedanken.
    Kurz danach verreiste auch Mr Crale. Ich wusste natürlich, dass er dem Mädchen nachgefahren war, und Mrs Crale tat mir sehr leid; sie war so empfindsam. Ich war äußerst erbittert über Mr Crale. Wenn ein Mann eine so reizende, intelligente Frau hat, so darf er sie nicht auf diese Weise behandeln; doch hofften sowohl sie wie ich, dass die Affäre bald zu Ende sein würde. Wir sprachen natürlich nicht darüber, aber sie kannte meine Ansichten.
    Leider tauchte das Paar nach einigen Wochen wieder auf, und die Sitzungen sollten von neuem beginnen. Mr Crale arbeitete nun wie ein Besessener. Ihn schien jetzt weniger das Mädchen als das Bild zu interessieren; dennoch bemerkte ich, dass diese Affäre ernster war als die bisherigen. Das Mädchen hatte Macht über ihn und wusste, was sie wollte; er war wie Wachs in ihren Händen.
    Am Tag vor seinem Tod, also am 17. September, hatte sich die Lage zugespitzt. Bereits in den letzten Tagen war Miss Greers Unverschämtheit unerträglich geworden; sie fühlte sich sicher, und das zeigte sie auch. Mrs Crale verhielt sich wie eine wahre Dame. Sie war von einer eisigen Höflichkeit, gab aber der andern klar zu verstehen, was sie von ihr dachte.
    Als wir an diesem Tag, dem 17. September, nach dem Mittagessen im Wohnzimmer saßen, machte Miss Greer die erstaunliche Bemerkung, dass sie die Einrichtung des Zimmers ändern wolle, sowie sie nach Alderbury ziehen würde. Natürlich konnte Mrs Crale das nicht hinnehmen. Sie stellte Miss Greer zur Rede, die daraufhin die Unverschämtheit besaß, vor uns allen zu behaupten, sie

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