Das Urteil
Wort von einer Protokollantin aufnehmen zu lassen. Aber Harkin wollte nur ein paar Minuten Geplauder. Er konnte diesem jungen Mann vertrauen.
»Alles bestens«, sagte Nicholas.
»Nichts Ungewöhnliches?«
»Nichts, was mir aufgefallen wäre.«
»Wird der Fall erörtert?«
»Nein. Im Gegenteil, wenn wir zusammen sind, versuchen wir, dieses Thema zu vermeiden.«
»Gut. Irgendwelche Animositäten oder Streitigkeiten?« »Noch nicht.«
»Das Essen ist in Ordnung?«
»Ja, daran ist nichts auszusetzen.«
»Genügend persönliche Besuche?«
»Ich denke schon. Jedenfalls habe ich noch keine Beschwerden gehört.«
Harkin hätte nur zu gern gewußt, ob es unter den Geschworenen irgendwelche Techtelmechtel gab. Nicht, daß das irgendwelche juristische Bedeutung gehabt hätte - er hatte nur eine schmutzige Phantasie. »Gut. Lassen Sie es mich wissen, wenn es irgendein Problem gibt. Und behalten Sie diese Unterhaltung für sich.«
»Natürlich«, sagte Nicholas. Sie gaben sich die Hand, dann ging er.
Harkin begrüßte die Geschworenen freundlich und hieß sie für eine weitere Woche willkommen. Sie wirkten begierig, an die Arbeit zu gehen und die Sache möglichst schnell hinter sich zu bringen.
Rohr stand auf und rief Leon Robilio als nächsten Zeugen auf, und die Akteure widmeten sich ihrer Aufgabe. Leon wurde durch eine Nebentür in den Saal geleitet und schlurfte unsicher zum Zeugenstand, wo der Deputy ihm beim Hinsetzen half. Er war alt und blaß und trug einen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und keine Krawatte. Er hatte ein Loch im Hals und darüber einen dünnen, weißen, von einem weißen Leinentuch kaschierten Verband. Als er schwor, die Wahrheit zu sagen, tat er es, indem er ein bleistiftdünnes Mikrofon an seinen Hals hielt. Er sprach auf die flache, monotone Art eines Mannes, der an Rachenkrebs leidet und keinen Kehlkopf mehr hat.
Aber die Worte waren gut hörbar und verständlich. Mr. Robilio hielt das Mikrofon dicht an seinen Hals, und seine Stimme röchelte durch den Saal. So redete er nun einmal, verdammt noch mal, und zwar an jedem Tag seines Lebens. Er wollte verstanden werden.
Rohr kam schnell zur Sache. Mr. Robilio war vierundsechzig Jahre alt, ein Mann, der den Krebs überlebt, vor acht Jahren seine Stimmbänder verloren und gelernt hatte, durch die Speiseröhre zu sprechen. Er hatte nahezu vierzig Jahre lang stark geraucht, was ihn fast umgebracht hatte. Jetzt litt er außer unter den Nachwirkungen der Krebserkrankung unter einer Herzkrankheit und einem Emphysem. Alles wegen der Zigaretten.
Seine Zuhörer gewöhnten sich schnell an seine verstärkte, roboterähnliche Stimme. Er hatte ihre volle Aufmerksamkeit, als er ihnen mitteilte, daß er zwei Jahrzehnte als Lobbyist für die Tabakindustrie gearbeitet hatte. Als der Krebs ausbrach, gab er den Job auf und stellte fest, daß er trotz der Erkrankung nicht mit dem Rauchen aufhören konnte. Er war süchtig, physisch und psychisch süchtig nach dem Nikotin in den Zigaretten. Nachdem sein Kehlkopf entfernt worden war und die Chemotherapie in seinem Körper wütete, hatte er noch zwei Jahre weitergeraucht. Erst nach einem beinahe tödlichen Herzinfarkt hatte er damit aufgehört.
Obwohl offensichtlich bei schlechter Gesundheit, arbeitete er immer noch ganztags in Washington, aber jetzt stand er auf der anderen Seite des Zauns. Er stand im Ruf, ein leidenschaftlicher Antiraucher-Aktivist zu sein. Ein Guerilla, wie manche Leute ihn nannten.
Früher einmal hatte er für den Tobacco Focus Council gearbeitet. »Was nichts anderes war als ein Verein von Lobbyisten, der ausschließlich von der Industrie finanziert wurde«, sagte er mit Abscheu. »Unser Auftrag bestand darin, die Tabakkonzerne über den jeweiligen Stand der Rechtsprechung und Versuche, sie zu ändern, zu informieren. Wir hatten ein großes, praktisch unbegrenztes Budget zum Bewirten einflußreicher Politiker. Wir arbeiteten mit allen Mitteln und brachten den anderen Tabakverteidigern das Einmaleins des politischen Faustkampfes bei.«
In dem Council hatte Robilio Zugang zu zahllosen Publikationen über Zigaretten und die Tabakindustrie. Zu seinen Aufgaben gehörte das gewissenhafte Sammeln aller bekannten Untersuchungen, Projekte und Experimente. Ja, Robilio hatte die berüchtigte Nikotin-Aktennotiz gesehen, die Krigler beschrieben hatte. Er hatte sie viele Male gesehen, besaß aber keine Kopie davon. Im Council war allgemein bekannt, daß sämtliche Tabakkonzerne den Nikotingehalt auf
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