Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Urteil

Titel: Das Urteil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
Vom Netzwerk:
ließ diese ernste Warnung im Saal verhallen; die Geschworenen fühlten sich schon schuldig, nur weil sie ihnen zuteil geworden war. Im Bewußtsein, sein Ziel erreicht zu haben, verlas er dann die Fragen: Hat jemand versucht, mit Ihnen über diesen Prozeß zu sprechen? Haben Sie irgendwelche ungewöhnlichen Anrufe erhalten, seit die Sitzung gestern vertagt wurde? Haben Sie irgendwelche Fremden gesehen, die Sie oder Ihre Familienangehörigen beobachtet haben? Haben Sie irgendwelche Gerüchte oder Bemerkungen über eine der beiden Parteien dieses Verfahrens gehört? Über einen der Anwälte? Einen der Zeugen? Hat irgend jemand mit Ihren Freunden oder Familienangehörigen Kontakt aufgenommen und versucht, über diesen Prozeß zu reden? Hat ein Freund oder ein Familienangehöriger versucht, seit der gestrigen Vertagung mit Ihnen über diesen Prozeß zu sprechen? Haben Sie irgendwelche Schriftstücke gesehen oder erhalten, in denen etwas diesen Prozeß Betreffendes auf irgendeine Weise erwähnt wurde?
    Nach jeder Frage auf seiner Liste machte der Richter eine Pause, musterte hoffnungsvoll jeden einzelnen Geschworenen und kehrte dann, offensichtlich enttäuscht, zu seiner Liste zurück.
    Was den Geschworenen merkwürdig vorkam, war die Aura der Erwartung, die diese Fragen umgab. Die Anwälte ließen sich kein Wort entgehen; sie schienen sicher zu sein, daß verdammende Antworten von den Geschworenen kommen würden. Die Justizbeamten, normalerweise vollauf damit beschäftigt, mit Papieren oder Beweisstücken zu hantieren oder ein Dutzend Dinge zu tun, die nichts mit dem Prozeß zu tun hatten, saßen völlig still da und warteten darauf, welcher Geschworene gestehen würde. Die finstere Miene und die hochgezogenen Brauen des Richters nach jeder Frage bezweifelten die Integrität jedes einzelnen Geschworenen, und ihr Schweigen grenzte für ihn an bewußte Täuschung.
    Als er fertig war, sagte er ruhig: »Ich danke Ihnen«, und der Gerichtssaal schien wieder zu atmen. Die Geschworenen hatten das Gefühl, mißhandelt worden zu sein. Seine Ehren trank einen Schluck Kaffee aus seinem großen Becher und lächelte Wendall Rohr an. »Rufen Sie Ihren nächsten Zeugen auf, Herr Anwalt.«
    Rohr erhob sich, mit einem großen braunen Fleck auf seinem zerknitterten weißen Hemd, wie gewöhnlich schiefsitzender Fliege und abgeschabten, von Tag zu Tag schmutziger werdenden Schuhen. Er nickte und lächelte den Geschworenen so freundlich zu, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als das Lächeln zu erwidern.
    Rohr hatte einen Jury-Berater beauftragt, alles zu notieren, was die Geschworenen trugen. Wenn einer der fünf Männer an einem Tag zufällig Cowboystiefel trug, dann hatte Rohr ein altes Paar zur Hand. Zwei Paar sogar - mit stumpfer und mit spitzer Kappe. Er war auch bereit, Turnschuhe zu tragen, wenn die Zeit dazu gekommen war. Er hatte es schon einmal getan, als auf der Geschworenenbank Turnschuhe aufgetaucht waren. Der Richter, nicht Harkin, hatte das in seinem Amtszimmer moniert. Er litte an einer Fußkrankheit, hatte Rohr erklärt, und einen Brief von einem Facharzt vorgelegt. Er konnte eine gestärkte khakifarbene Hose tragen, Strickkrawatten, Sportjacketts aus Polyester, Cowboygürtel, weiße Socken, billige Mokassins (entweder blankgeputzt oder abgetragen). Immer wählte er seine Kleidung so aus, daß sie derjenigen der Leute entsprach, die jetzt gezwungen waren, in seiner Nähe zu sitzen und ihm täglich sechs Stunden zuzuhören.
    »Wir möchten Dr. Milton Fricke aufrufen«, verkündete er.
    Dr. Fricke wurde vereidigt, und der Gerichtsdiener rückte sein Mikrofon zurecht. Es stellte sich rasch heraus, daß seine Qualifikation nach Pfunden gemessen werden konnte - massenhaft Diplome von zahlreichen Universitäten, Hunderte von publizierten Aufsätzen, siebzehn Bücher, Jahre akademischer Lehrtätigkeit, Jahrzehnte der Forschung über die Auswirkungen von Tabakrauch. Er war ein kleiner Mann mit rundem Gesicht und einer schwarzen Hornbrille; er sah aus wie ein Genie. Rohr brauchte fast eine Stunde, um seine verblüffende Sammlung von Qualifikationen zu präsentieren. Als Fricke endlich als Experte ausgewiesen war, wollte Durr Cable sich nicht mit ihm anlegen. »Wir sind ebenfalls der Auffassung, daß Dr. Fricke als Sachverständiger qualifiziert ist«, sagte Cable. Es hörte sich eher wie eine haltlose Untertreibung an.
    Im Laufe der Jahre hatte Dr. Fricke sein Arbeitsfeld eingeengt, und jetzt verbrachte er täglich zehn Stunden

Weitere Kostenlose Bücher