Das Urteil
Sie spalteten sich in Grüppchen auf und berichteten einander, was während ihrer Freiheit übers Wochenende passiert war. Die meisten hatten Besorgungen und Einkäufe gemacht, hatten Verwandte besucht oder waren in die Kirche gegangen, und der tägliche Kleinkram hatte für diese Leute, denen abermals eine Einsperrung bevorstand, eine neue Bedeutung gewonnen. Herman war spät dran, deshalb gab es Geflüster über den Prozeß, nichts Wichtiges, sondern nur die allgemeine Übereinstimmung, daß die Sache der Anklage in einem Sumpf aus Tabellen, Graphiken und Statistiken versank. Sie glaubten ja alle längst, daß Rauchen Lungenkrebs verursacht. Sie wollten neue Informationen.
Nicholas gelang es an diesem Morgen, Angel Weese zu isolieren. Sie hatten seit Beginn des Prozesses kurze Höflichkeiten ausgetauscht, aber über nichts Bestimmtes gesprochen. Sie und Loreen Duke waren die beiden einzigen schwarzen Frauen in der Jury, und sie hielten sich seltsamerweise voneinander fern. Angel war schlank und still, ledig und arbeitete bei einem Biergroßhandel. Sie sah ständig aus, als litte sie still vor sich hin, und es war nicht leicht, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Stella kam spät und sah aus wie der leibhaftige Tod; ihre Augen waren rot und verquollen, ihre Haut bleich. Ihre Hände zitterten, als sie sich Kaffee eingoß, und sie ging sofort ins Raucherzimmer, in dem Jerry Fernandez und der Pudel miteinander plauderten und flirteten, wie sie es jetzt ständig taten.
Nicholas brannte darauf, Stellas Bericht über das Wochenende zu hören. »Wie wär's mit einer Zigarette?« sagte er zu Angel, der vierten Raucherin in der Jury.
»Wann haben Sie denn damit angefangen?« fragte sie mit einem Lächeln, was bei ihr selten war.
»Vorige Woche. Ich höre wieder auf, wenn der Prozeß vorüber ist.« Sie verließen das Geschworenenzimmer unter den wachsamen Augen von Lou Dell und gesellten sich zu den anderen - Jerry und dem Pudel, die sich nach wie vor unterhielten, und Stella mit versteinertem Gesicht und am Rande eines Zusammenbruchs.
Nicholas schnorrte eine Camel von Jerry und zündete sie mit einem Streichholz an. »Wie war es in Miami?« fragte er Stella.
Sie drehte ruckartig und erschrocken den Kopf und sagte: »Es hat geregnet.« Sie biß auf ihren Filter und inhalierte heftig. Die Unterhaltung geriet ins Stocken - alle konzentrierten sich auf ihre Zigaretten. Es war zehn vor neun, Zeit für die letzte Dosis Nikotin.
»Ich glaube, ich bin dieses Wochenende beschattet worden«, sagte Nicholas nach einer Minute des Schweigens.
Das Rauchen ging ohne Unterbrechung weiter, aber die Köpfe arbeiteten. »Wirklich?« fragte Jerry.
»Sie haben mich beschattet«, wiederholte er und sah dabei Stella an, deren Augen weit aufgerissen und voller Angst waren. »Wer?« fragte der Pudel.
»Das weiß ich nicht. Es war am Sonnabend, als ich meine Wohnung verließ und zur Arbeit ging. Da sah ich einen Kerl, der neben meinem Wagen herumlungerte, und später habe ich ihn im Einkaufszentrum gesehen. Vermutlich irgendein Agent, den die Typen von der Tabakindustrie angeheuert haben.«
Stellas Mund ging auf, und ihr Unterkiefer sackte herunter. Aus ihren Nasenlöchern quoll grauer Rauch. »Werden Sie es dem Richter sagen?« fragte sie, den Atem anhaltend. Es war eine Frage, über die Cal und sie sich in den Haaren gelegen hatten.
»Nein.«
»Warum nicht?« fragte der Pudel, nur mäßig interessiert.
»Ich weiß es nicht mit Sicherheit. Ich meine, ich bin sicher, daß mir jemand gefolgt ist, aber ich weiß nicht genau, wer es war. Was sollte ich dem Richter sagen?«
»Sagen Sie ihm, daß Sie beschattet worden sind«, sagte Jerry.
»Weshalb sollte jemand auf die Idee kommen, Sie zu beschatten?« fragte Angel.
»Aus dem gleichen Grund, aus dem wir alle beschattet werden.«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte der Pudel.
Stella glaubte jedes Wort, aber wenn Nicholas, der ehemalige Jurastudent, den Richter nicht informieren wollte, dann wollte sie es auch nicht.
»Weshalb beschatten sie uns?« fragte Angel noch einmal, nervös.
»Das gehört einfach zu ihrem Handwerk. Die Tabakkonzerne geben Millionen aus, um uns auszuwählen, und jetzt geben sie noch mehr aus, um uns zu beobachten.«
»Und was wollen sie damit erreichen?«
»Sie suchen nach Möglichkeiten, an uns heranzukommen. Nach Freunden, mit denen wir vielleicht reden. Nach Orten, die wir vielleicht aufsuchen. Oft setzen sie in unserer Umgebung Gerüchte in die Welt,
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