Das Urzeit-Monstrum
Phantasie?
Boris war plötzlich schwankend geworden. Er versuchte, eine gewisse Logik in seine Überlegungen mit hineinzubringen. Wenn er diesen Gedanken fortführte, mußte er einfach zu der Lösung gelangen, daß die Phantasiegeschöpfe real geworden waren.
Aber warum?
Wie war dies möglich?
Er hörte sich atmen. Es klang überlaut. Er ließ sich in einen der Ledersessel fallen, griff nach der Flasche und dem Glas, das er fast bis zur Hälfte mit dem Whisky vollschenkte.
Dann trank er.
Er schluckte das scharfe Zeug wie Wasser hinunter, und er genoß die sich ausbreitende Wärme.
Noch einen Schluck, dann den nächsten, bevor der Maler das Glas wieder absetzte.
Er hatte das Licht im Raum nicht eingeschaltet, und er ließ es auch jetzt aus, denn es war hell genug, um auch seine Handfläche erkennen zu können. Er hatte sie umgedreht, schaute sie an und suchte nach irgendwelchen Schleimspuren, die allerdings sichtbar nicht mehr vorhanden waren. Dafür klebte noch ein durchsichtiges Zeug auf seiner Haut, aber dieser Film war so dünn, daß er sich ertragen ließ. Leben!
Okay, aber was war das nur für ein Leben? Nicht mehr wie zuvor, nicht mehr wie in all den Jahren, die hinter ihm lagen. Da hatte er normal seinem Beruf nachgehen können, und er war immer dankbar gewesen, daß ihm ein derartiges Talent mit in die Wiege gelegt worden war.
Seine Bilder waren bei einer bestimmten Käuferschicht beliebt, und sie würden auch beliebt bleiben, denn es gab Menschen, die sich mehrere seiner Bilder kauften und zu regelrechten Sammlern geworden waren.
Keine Motive, die in klassischer Schönheit gebadet waren. Was er auf die Leinwand brachte, wurde von vielen Leuten als die Wahnvorstellungen eines Verrückten angesehen. Vielleicht würde man in einigen hundert Jahren anders darüber denken, wie man es auch bei den Malern des ausgehenden Mittelalters und denen am Beginn der Neuzeit getan hatte, aber das war für Boris Beckmann nur ein flüchtiger Gedanke, mit dem er in seiner momentanen Situation auch nichts anfangen konnte. Hier ging es um andere Dinge, doch er fragte sich gleichzeitig, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, daß er nur diese Motive malte. Wenn er sich vor eine leere Leinwand stellte, um seine Idee umzusetzen, dann hatte er sich des öfteren die Frage gestellt, weshalb er nur die grauenvollen Geschöpfe in einer schrecklichen Umgebung malte. Nichts anderes. Keine schöne, keine heile Welt, nur eben Monster und Mutanten, Mischungen aus Menschen und Tieren, Phantasien, wie sie schrecklicher nicht sein konnten. Woher nehme ich diese Idee?
Der Gedanke quälte ihn an diesem Nachmittag stärker als zuvor. So stark war er eigentlich noch nie gewesen. Ihm war, als hätte ihn ein Rausch überfallen, der sein normales Denken blockiert hatte.
Andere malten farbenfrohe, sonnenhelle Landschaften. Oder auch ruhige Stilleben. Wieder andere schmierten die Leinwand einfach voll, und in Österreich gab es sogar einen Affen, der mit grellen Farben eine Leinwand beschmierte, was später als Kunst verkauft wurde. Für all das brachte er noch Verständnis auf, aber seltsamerweise nicht für seine eigenen Phantasien. Damit kam er einfach nicht zurecht.
Dabei mußte es einen Grund geben. Von nichts kam nichts. Die Tiefe seiner Seele mußte anders programmiert sein. Manchmal hatte er auch schon daran gedacht, im früheren Leben ein anderer gewesen zu sein.
Eine andere Kreatur, deren Ich überlebt und sich in seiner neuen Existenz festgesetzt hatte.
An diese Theorie wollte er selbst nicht glauben. Nur war sie an diesem Tag besonders stark vorhanden, und damit wiederum kam er nicht zurecht, obwohl es mit den unheimlichen Vorgängen in einem direkten Zusammenhang stehen konnte.
Nur schaffte es Boris Beckmann nicht, diese Brücke zu schlagen.
Deshalb quälten ihn seine Gedanken und Überlegungen nur noch stärker. Das Leder knarrte, als er sich bewegte. Wieder nahm er einen Schluck. Dabei starrte er gegen das Fenster.
Die Einsamkeit des späten Nachmittags lag über dem Ort. Auch viele Gäste zogen sich jetzt in die kleinen Hotels oder in die Ferienwohnungen zurück, und so leerten sich die schmalen Straßen und Gehsteige in Keitum fast völlig.
Hinter seinen Schläfen tuckerte es. Die Kopfschmerzen fingen an. Boris kannte diese Qual. Es war auch nicht normal, daß sie ihn immer so plötzlich überfielen.
Er hatte sich nie gegen sie wehren können, er würde es auch heute nicht schaffen, er würde weiterhin mit
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