Das Urzeit-Monstrum
keine in der Nähe stand, stützte sich Harry an einer Mauer ab.
Das war ein Schock gewesen, unter dem er noch immer litt. Alles drehte sich noch vor seinen Augen. Er sah Bilder, die seinem Gedächtnis entstiegen, aber nicht den tatsächlichen Gegebenheiten um ihn herum entsprachen.
Erinnerungen. Das Monster. Die Arme. Der Mann. Es drehte sich hin und her. Wie ein Bilderstreifen, der vor seinen Augen entlangglitt und nicht anhalten wollte.
Eines stand für Harry Stahl fest. Er wußte jetzt, wer sich die Verschwundenen geholt hatte. Im Watt lebte ein Monster! Es mochte schon lange dort existiert haben, vielleicht Tausende von Jahren, obwohl es die Insel so wie sie heute war, früher nicht gegeben hatte. Die heutige Form war erst in den letzten beiden Jahrhunderten entstanden, und sie veränderte sich beinahe täglich, denn die Natur nagte an ihr wie ein bösartiges Tier.
Aber dieses Monstrum war vorhanden gewesen. Wohl nicht unter Wasser damals, sondern unter der Erde, wie auch immer. Harry nahm es hin. Über das Motiv wußte er nichts. Nur daß eben dieser Mann auf dem Boden seines Hauses eine besondere Beziehung zu diesem Wesen gehabt haben mußte. Den genauen Grund würde Harry nicht herausfinden können, dazu brauchte er Hilfe, und er war jetzt noch froher darüber, seinen Freund John Sinclair angerufen zu haben.
Nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte und sich besser fühlte, beschloß er, den Rückweg zum Hotel anzutreten. Das hatte nichts mit Feigheit zu tun, mehr mit Vorsicht, denn er wußte genau, daß er gegen ein derartiges Wesen nicht ankam. Das war schneller und auch stärker als er.
Wenn es ihn einmal umschlungen hatte, gab es kein Entkommen mehr für ihn. Die Leiche aus dem Watt war für ihn Warnung genug gewesen.
So machte er sich wieder auf den Rückweg durch das inzwischen nachtdunkle und romantische Keitum. Er ging über die schmalen Gehsteige dicht an den Häusern entlang, schaute in die erleuchteten Zimmer, sah Menschen, die zufrieden waren und nichts von der Gefahr ahnten.
In den Kaminen brannte Feuer. Rauch stieg auf. Der schwere Geruch lag über dem Ort, und Harry empfand ihn nicht mal als besonders unangenehm. Irgendwie paßte er zu dieser Gegend. Zudem erinnerte er ihn an alte DDR-Zeiten. In seiner Heimatstadt Leipzig hatte es früher ähnlich gerochen.
Er war nicht länger als eine Viertelstunde unterwegs, als er das Deich-Hotel, die Insel auf der Insel, erreichte.
In der Dunkelheit wirkte es wie ein verwunschenes Kleinod, das von den Zeiten vergessen worden war.
Lichter schimmerten entlang des Mittelwegs, der zum Eingang führte.
Der Parkplatz lag im Dunkeln.
In der Bar war bereits Licht, doch noch herrschte kein Betrieb. Das würde sich erst gegen 22 Uhr ändern.
Als Harry daran dachte, spürte er auch den Hunger.
Eine Kleinigkeit würde er schon vertragen können. Zum Glück war die Küche noch geöffnet. Er schob die Tür auf, trat hinein in die Wärme und hörte auch die Stimmen der Gäste, die im Flur standen und sich darauf einrichteten, zum Essen zu fahren, denn im Deich-Hotel gab es nur kleine Speisen.
Er grüßte, drängte sich an ihnen vorbei und holte an der Rezeption seinen Schlüssel.
»Herr Stahl?« Die Stimme der jungen Frau war aus dem hinteren Büro gedrungen.
Harry blieb stehen. »Ja, was ist denn?«
Die blonde Person tauchte neben ihm auf. »Eine Nachricht aus London für Sie.«
»Und?«
»Ein Mr. Sinclair läßt ausrichten, daß er morgen hier eintreffen wird. Gegen Mittag wird er Westerland erreicht haben.«
»Gibt es eine genaue Uhrzeit?«
»Nein, leider nicht. Zwischen zwölf und dreizehn Uhr. Sie würden schon warten, meinte er.«
»Das allerdings. Danke.«
»Und sonst geht es Ihnen gut, Herr Stahl?«
»Ja, eigentlich schon. Danke der Nachfrage.«
»Schönen Abend noch.«
»Ihnen auch.«
Harry brauchte nicht weit zu laufen, um den Frühstücksraum zu erreichen, in dem auch das kleine Abendessen eingenommen werden konnte. An diesen Raum war noch ein Wintergarten angebaut worden, aber ihn betrat der Mann nicht.
Die wirklich gemütliche und anheimelnde Atmosphäre tat ihm gut. Helle Fliesen an den Wänden, ein ebenfalls heller Teppichboden, die warmen Kirschholzstühle, die Kerzen auf den mit weißen Decken belegten Tischen, die wenigen Gäste, die hier in Ruhe saßen oder lasen und sich so entspannen konnten.
Ein junges Mädchen mit hellblonden Haaren und einem hübschen Gesicht erkundigte sich nach Harrys Wünschen. Er hatte Durst
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