Das verborgene Feuer
doch freundlich. Sie war jung, wie er gemerkt hatte, und auf eine Weise unschuldig, an die er sich kaum erinnerte, obwohl ihr kurzes Leben von Verlust und Verzicht geprägt schien. Und sie war erstaunlicherweise außerordentlich faszinierend.
»Unerklärlich«, murmelte er in sich hinein und bewegte sich durch die Menge auf sie zu.
Er hatte nicht bemerkt, dass sie ihn verstanden hatte, doch ihre Brauen hoben sich amüsiert.
»Nichts ist unerklärlich. Es ist bloß noch nicht erklärt.« Sie lächelte ihm in der lärmenden Menge zu, und er ließ die grünen Augen kurz auf ihrem Gesicht ruhen, bevor sie gemeinsam weiter über das Fest bummelten.
»Vielleicht, Beatrice. Vielleicht haben Sie recht.«
4
Houston, Texas
November 2003
»Warum färben Sie Ihr Haar?«
Beatrice sah vom Monitor auf und stellte fest, dass Giovanni sie wieder einmal von seinem Platz im Lesesaal aus anschaute.
»Was?«
»Es ist doch sowieso dunkelbraun; warum färben Sie es dann noch schwarz?«, fragte er erneut und fasste sie scharf ins Auge.
Sie hätte über seine erstaunte Miene am liebsten gelacht, behielt aber ein ernstes Gesicht. »Weil es nur fast schwarz ist, aber nicht ganz.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie musterte ihn über ihre Aufsichtstheke hinweg, und ein kleines Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. »Ich hatte das Gefühl, dass mein Haar sich für keine Farbe entschieden hat, Gio. Ich mache keine halben Sachen und mag auch bei meinen Haaren nichts Halbherziges.«
Er legte den Bleistift hin, lehnte sich zurück und neigte belustigt den Kopf zur Seite. »Sie färben Ihr Haar also, weil Sie es für … faul halten?«
Sie zuckte die Achseln. »Für faul halte ich es nicht, sondern für unentschlossen.«
Er lächelte. »Ihnen ist sicher klar, dass das Unsinn ist. Die Gene bestimmen die Haarfarbe, und die spiegelt weder Persönlichkeit noch Arbeitsmoral wider.«
Sie funkelte Giovanni in gespieltem Zorn an und streckte ihm die Zunge heraus.
Er sah sie erstaunt an und brach dann in Lachen aus. Dieser unvertraute, aber nicht unwillkommene Laut verblüffte sie, doch sie lachte mit und sah dann auf die Wanduhr. Es war schon zehn vor neun.
Schmunzelnd sagte sie: »Gut, geben Sie mir das Buch. Ich muss zusperren.«
Mit einem Lächeln räumte er das Manuskript ein. Sie kam zu ihm, nahm den Pappkarton und begann ihr abendliches Schließritual.
Seit Giovanni sie und ihre Großmutter vor Wochen auf das Fest begleitet hatte, war er erstaunlich freundlich geworden. Mitunter sah sie ihn abends mit einem Kaffee, den er nie trank, in der Cafeteria sitzen, oder er strich durch den großen Lesesaal. Ihm lag daran, ein wenig mit ihr zu plaudern, und sie fand seine Absichten so verblüffend wie seinen Beruf.
Im Internet hatte sie nach ihm gesucht, und obwohl ihr Unmengen an Antiquaren und seltenen Büchern begegnet waren, war sein Name nicht aufgetaucht. Sie hatte eine Visitenkarte von ihm mit Notizen von Charlotte Martin entdeckt, doch dort war nur eine Telefonnummer angegeben, und es widerstrebte ihr, sie zu wählen. Immerhin übertrug sie sie in ihr Handy.
Als ihre Großmutter sie nach dem faszinierenden Buchhändler fragte, erntete sie nur ein Achselzucken.
»Er wirkt wie von einem anderen Planeten, Oma.«
»Er ist altmodisch … und europäisch. Vielleicht hat er einfach keine Homepage.«
»Und keine geschäftliche Telefonnummer? Erwähnt wird er auch nirgendwo – das kommt mir schon seltsam vor.« Sie saß am Frühstückstisch, trank Kaffee und sah zu, wie ihre Großmutter das Chili verde vorbereitete, das es zum Abendessen geben sollte.
»Fühlst du dich in seiner Gegenwart unwohl?« Isadora wandte sich ihr mit besorgter Miene zu. »Du bist jede Woche stundenlang mit ihm in diesem Lesesaal allein. Ich möchte nicht, dass du dich dabei bedroht fühlst.«
Beatrice schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Es ist nur irgendwie …«
Isadora drehte sich wieder zum Herd um. »Du machst ein Geheimnis aus etwas, das keines ist, Mariposa. Ich finde ihn nett. Nur etwas altmodisch.« Sie schwieg, und ihre Miene verriet Beatrice, dass sie etwas aus ihren dunklen Jugendjahren durchlebte. Damit ihre Großmutter sich wegen ihrer seltsamen Faszination keine Sorgen machte, bemühte sich Beatrice, die Stimmung aufzuheitern.
»Er hat nicht mal ein Handy – unglaublich, oder?«
»Tatsächlich?« Isadora mochte von moderner Technik weniger halten als ihre Enkelin, aber ein Mobiltelefon hatte sie sich sofort zugelegt, als ihr klar
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