Das verborgene Feuer
geworden war, dass sie damit beinahe ununterbrochen mit ihren Freundinnen sprechen konnte.
»Ich habe ihn nie mit einem gesehen. Und wenn ich es mir recht überlege, hat er auch keinen Laptop.« Sie runzelte erneut die Stirn. »Und welcher Forscher arbeitet heutzutage noch ohne einen? Das ist einfach seltsam.«
Ihre Großmutter lachte. »Vielleicht hat er ja eine Technikallergie.«
In den folgenden Wochen wurde Dr. Giovanni Vecchio für Beatrice fast zu einer Obsession.
Er war reich – zu diesem Schluss war sie gekommen, nachdem ihm ein grauhaariger Mann mehrmals die Tür zum Fond eines Mercedes aufgehalten hatte, als sie gemeinsam aus der Bibliothek gekommen waren. Giovanni hatte sich angewöhnt, sie nach der Arbeit mitunter zu ihrem kleinen, gebrauchten Honda Civic zu begleiten – meist, um eine Unterhaltung fortzuführen. Er hatte sie auch davon überzeugen wollen, es sei gut für ihre Gesundheit, flotten Schritts die Treppe vom vierten Stock hinunter zu nehmen. Manchmal schloss sie sich ihm an, manchmal dagegen wartete sie am Aufzug. Er ging ungewöhnlich schnell.
Außerdem musste er Anfang dreißig sein. Zwar wirkte er jünger, hatte aber beiläufig so viele Universitäten erwähnt, dass er sie alle unmöglich schon mit Ende zwanzig besucht haben konnte.
Am meisten aber beunruhigte sie, dass etwas an seiner Erscheinung Erinnerungen an eine Lebensphase weckte, die sie unbedingt vergessen wollte, und sie an ein Gesicht denken ließ, das sie in die Tiefen ihres Unterbewusstseins verbannt hatte. Seit Jahren mühte sie sich, dieses dunkle Kapitel ihrer Jugend endlich hinter sich zu bringen, doch je mehr Zeit sie mit dem geheimnisvollen Buchhändler verbrachte, desto mehr Gedanken und Erinnerungen stiegen in ihr hoch.
Jetzt stand er vor ihr, und sein sanftes Lächeln und seine traumschönen Augen waren ein Bild der Höflichkeit. Er trug einen moosgrünen Pullover, der seine Augen grün und zugleich grau wirken ließ.
»Darf ich Sie zu Ihrem Wagen begleiten?«
Sie zögerte, und ihre Miene musste ihn verwirrt haben, denn er trat einen Schritt zurück.
»Verzeihung … ich war in Gedanken.« Sie lächelte. »Ich habe mal wieder an mein unentschiedenes Haar gedacht.« Sie schloss kopfschüttelnd die Augen. Zur Rechtfertigung ihrer Verblüffung behauptet zu haben, über ihre Frisur nachzugrübeln, brachte sie in Verlegenheit.
Er runzelte die Stirn. »Wollten Sie –«
»Sicher«, unterbrach sie ihn. »Begleiten Sie mich nur. Lassen Sie mich bloß noch die Computer runterfahren. Könnten Sie das Licht an der Tür ausschalten?«
Er zögerte einen kaum wahrnehmbaren Moment lang, ging dann aber zur Tür. Während sie darauf wartete, sich aus dem Bibliotheksnetz auszuloggen, beobachtete sie ihn aus dem Augenwinkel heraus. Er griff mit der Hand in seine Umhängetasche, zog einen Stift heraus, schaltete damit das Licht aus und steckte ihn wieder in die Tasche zurück. Seine Bewegungen waren zügig und geübt, und wenn sie ihn nicht beobachtet hätte, wäre ihr das mit dem Stift sicher nicht aufgefallen.
Sie zwang sich, wieder auf ihren Monitor zu schauen, und richtete sich auf, als sie den Ton vernahm, mit dem das Gerät sich ausschaltete. Beatrice nahm ihre Tasche, setzte ein Lächeln auf und ging zur Tür, wo er auf sie wartete.
»Nehmen Sie heute mit mir die Treppe?«, fragte er.
»Heute lieber nicht. Meine Füße schmerzen höllisch. Nehmen Sie mit mir den Aufzug?«
Er sah sie kurz an und staunte über ihre Frage. Sie hatte ihn noch nie gefragt, ob er sie begleiten mochte, und war neugierig, wie er reagieren würde.
»Nein, danke. Sie kennen mich doch – ich treibe gern ein wenig Sport.«
Sie schmunzelte. »Gut.«
»Wir treffen uns unten.«
Er eilte zum Treppenhaus, wobei seine raschen Schritte im halbdunklen Flur fast keine Geräusche machten. Sie sah ihm nach.
»Und ob ich dich kenne«, murmelte sie.
Zwei Abende später begegnete sie ihm zufällig wieder, als sie ihre Hausarbeit für ein Seminar zur mittelalterlichen Literatur beendet hatte, in der es um die Bedeutung der Illustrationen in Gebetbüchern ging. Er beobachtete sie vom Torbogen neben der Cafeteria aus. Sie nahm sein blasses Gesicht nur flüchtig wahr, und sofort stieg eine Erinnerung an jenen Sommer in ihr hoch, in dem sie fünfzehn geworden war.
»Opa, ich glaube, ich habe ihn heute Abend wieder gesehen, beim Kino.«
Ihr Großvater saß an der Werkbank seines Ateliers und arbeitete an der kleinen Holzskulptur eines Schmetterlings
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