Das verborgene Feuer
für seine Frau. Nun legte er das Schnitzmesser weg, wischte die runzligen Hände ab und streckte ihr die Hand entgegen. Sie ergriff sie und trat neben ihn. Dabei streifte ihre purpurrote Bluse die Werkbank und nahm Holzsplitter mit, die sie mit rosa lackierten Fingernägeln wegschnippte.
»Mariposa«, er drückte ihre Hand, »mein Schmetterling, ich sehe ihn auch. Ich sehe ihn noch immer morgens am Küchentisch sitzen oder mit mir in der Werkstatt basteln. Diese Erinnerungen sind ganz natürlich, mein Schatz. Es ist normal, sich auf diese Weise an ihn zu erinnern.«
Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf, konnte oder wollte die wachsende Angst aber nicht mit dem bodenständigen Großvater teilen. Die Träume wurden schlimmer, und es wurde immer schwieriger, Zeit mit ihren Freundinnen zu verbringen, die anscheinend nur über Jungs, Klamotten und die neueste Musik sprechen wollten. Sie sah in das liebende und besorgte Gesicht ihres Großvaters.
Hector De Novo hatte den Tod des Sohnes bemerkenswert gut verkraftet und war nach Italien geflogen und mit einem Sarg zurückgekehrt, den zu öffnen man ihn gewarnt hatte. An die Stelle seiner tiefen Trauer war die Notwendigkeit getreten, sich um seine vom Kummer gezeichnete Frau und um seine Enkelin zu kümmern.
»Aber er … er sieht anders aus als früher. Er ist zu dünn, und seine Haut … habe ich anders in Erinnerung.« Sie merkte, wie ihr Herz zu rasen begann. »Werde ich langsam verrückt?«
Er zog sie an sich und umarmte sie fest. »Aber nein, du bist nicht verrückt – du bist einer der vernünftigsten Menschen, die ich kenne, aber du musst aufhören, so viel an ihn zu denken. Das ist nicht gesund, Liebes. Geh mehr mit deinen Freundinnen aus. Amüsiere dich.«
»Gut, Opa«, flüsterte sie in seinen Kragen.
»Und sag Oma nichts davon, ja? Das regt sie bloß auf.«
»Ich weiß.«
»Wenn dir etwas auf der Seele liegt, komm einfach zu mir und erzähl es mir.«
Er blickte in dunkle Augen, die aussahen wie seine eigenen und die ihres Vaters. »Es wird schon wieder, B. Wir kommen darüber hinweg.«
Sie ballte die Fäuste. »Manchmal wünschte ich, ich könnte ihn einfach vergessen, Opa. Das ist schrecklich.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Ist ja gut, Beatrice. Alles wird gut …«
»Beatrice?« Giovanni stand in einem grauen Tweedjackett vor ihr und hielt zwei Becher mit dampfendem Kaffee in Händen. »Darf ich mich Ihnen anschließen?«
Sie schüttelte kurz den Kopf, um wieder klar denken zu können, und wies auf den rot gepolsterten Stuhl gegenüber. »Natürlich. Was führt Sie hierher?«
Straffen Sie Ihr sowieso schon appetitliches Hinterteil, indem Sie die zehn Stockwerke der Fakultät für Architektur hochsteigen?
Oder stehlen Sie Dokumente für die Russen? Planen Sie ein Attentat auf meinen Professor für
US
-Außenpolitik? Das wäre super. Oder steigen Sie mir aus einem irrsinnigen und unerklärlichen Grund nach?
»Ich treffe mich mit einer Freundin zum Kaffee.«
»Um welche Zeit denn?« Als sie auf die Uhr sah, sah er sie mit zur Seite geneigtem Kopf stumm an.
»Ach«, sagte sie in plötzlichem Begreifen. »Sie meinen mich?«
Mit leisem Lächeln nahm er ihr gegenüber Platz. »Ich habe im Magazin recherchiert und gedacht, ich könnte eine Pause machen.«
»Woran arbeiten Sie denn?«
Er sah sie kurz an und schien zu überlegen, ob sie es wert war, ihr davon zu erzählen. Sie hob die Brauen, als er schwieg, zuckte die Achseln und tippte auf ihrem Laptop.
»Ich habe für einen Kunden nach ein paar Dokumenten geforscht.«
Sie staunte darüber, dass er doch noch geantwortet hatte. »Klingt interessant. Was für Dokumente denn?«
Seine etwas gequälte Miene ließ sie abwinken.
»Schon gut. Geht mich ja nichts an.«
»Nicht, dass ich Sie nicht vertrauenswürdig finde«, sagte er rasch. »Aber dieser Sammler legt größten Wert auf Anonymität. Ich habe nicht einmal Caspar seinen Namen und seine Adresse genannt.«
»Caspar?«
»Oh.« Er zögerte. »Das ist mein …«
»Der Herr, der Sie manchmal von der Bibliothek abholt?«
»Ja, mein Butler, wie man wohl sagen kann. Er arbeitet für mich und führt mir auch den Haushalt. Und er unterstützt mich bei meiner Arbeit.«
Sie hob erneut die Brauen und nickte. »Ich habe noch nie jemanden mit Butler getroffen.«
»Nun«, er zuckte die Achseln, »jetzt offenbar doch.«
»Sagen Sie die Wahrheit, Giovanni Vecchio.« Ihr Blick bekam etwas Spitzbübisches. »Sie haben einen Butler und ein cooles
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