Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
dass diese Touristin die nächste sein würde, mit ihrem englischen Milchgesicht.«
»Welche Touristin, Mummy?«, fragte Élodie, öffnete eine Schachtel Kekse und kippte sie auf einen Teller. Celeste legte kurz die Hand an ihre Stirn, strich dann über ihr Gesicht und hielt sie sich vor den Mund. Ihre Stirn war gerunzelt. »Mummy?«
»Nichts, Élodie. Es spielt keine Rolle.« Celeste stemmte die Hände in die Hüften und musterte die drei Mädchen. »Also! Welch eine Schar zerrupfter Schönheiten! Wie ich sehe, wart ihr schwimmen, also werdet ihr Hunger haben. Alors – geht und zieht euch um, und ich mache das Abendessen fertig. Allez, allez! « Sie scheuchte die Mädchen vor sich her aus der Küche, und ihre Fröhlichkeit hatte dieselben scharfen Ränder wie zuvor. Dimity fiel auf, dass Celeste den Blick abgewandt hielt und ihr nicht ins Gesicht sehen wollte.
Dimity versuchte, die hellblaue Bluse zu behalten, doch als sie behauptete, die Bluse sei verschwunden, vielleicht da vongeweht, wurde Valentina dermaßen wütend, dass Dimity hinausgehen und so tun musste, als habe sie sie in einem der Bäume hinter dem Garten gefunden. Sie bekam keinen Dank dafür, dass sie sie zurückgebracht hatte, nur ein finsteres Gesicht und die Ermahnung, die Wäsche besser festzuklammern.
»Du hast ja keine Ahnung, wie viele Mahlzeiten diese Bluse dir im Lauf der Jahre verschafft hat«, sagte sie. Es ver setzte Dimity einen schmerzhaften Stich, sie wieder her zugeben. Sie verdankte dem Kleidungsstück nämlich noch viel mehr. Es hatte ihr Charles zurückgebracht, sie vom Rand der Klippe zurückgeholt. Tagelang erledigte sie ihre Besorgungen mit federnden Schritten, schwingendem Korb und einem Lied auf den Lippen. Eines Nachmittags sah sie Charles im Dorf vor dem Pub sitzen, mit dem Touristenmann, dessen Haar schwärzer war als Pech. Sie tranken dunkles Bier und unterhielten sich, und Dimity schlug den gewohnten großen Bogen um den Pub und fragte sich, worüber Männer sich wohl im Allgemeinen unterhielten. Sie fragte sich, ob er diesem Mann von ihr erzählen würde – von seiner Muse und dem Gemälde, das er plante.
Als sie am Briefkasten vorbeiging, riss eine Hand an ihrem Arm sie aus ihren Gedanken. Celestes elegante Finger hatten sich fest um ihr Handgelenk geschlungen. Die Frau aus Marokko duckte sich hinter den Briefkasten, als spielte sie Verstecken, und ihr schönes Gesicht wirkte gefährlich gereizt und besorgt. Instinktiv wich Dimity vor ihr zurück.
»Mitzy, warte. Siehst du diesen Mann – den, mit dem Charles sich unterhält?«, flüsterte Celeste. Sie zog Dimity am Arm zu sich heran, damit sie ganz aus der Nähe mit ihr reden konnte, ohne ihr Versteck verlassen zu müssen.
»Ja, Celeste. Natürlich sehe ich ihn«, antwortete Dimity nervös.
»Das ist der Ehemann von diesem Milchgesicht. Hast du sie auch schon gesehen? Weißt du, wen ich meine?«
»Ja.« Die Frau mit dem großen Busen, die trotz ihrer sittsamen Kleidung wie eine läufige Hündin wirkte, dachte sie.
»Hast du sie je mit Charles gesehen? Nur die beiden, meine ich. Haben sie vielleicht einen Spaziergang gemacht oder sich unterhalten? Hast du sie zusammen gesehen?«
»Nein, ich glaube nicht …«
»Du glaubst nicht? Hast du sie nun gesehen oder nicht?«, drängte Celeste. Ihre Fingernägel bohrten sich in Dimitys Haut, doch genau wie bei Valentina wagte Dimity plötzlich nicht, sich loszureißen.
»Nein, ich habe sie nicht zusammen gesehen, da bin ich sicher«, sagte sie. Celeste starrte die beiden Männer noch einen Moment lang an und richtete dann den Blick auf Dimity. Ihre Finger lösten sich ebenso abrupt, wie sie vorher zugepackt hatten.
»Gut. Das ist gut. Wenn du sie zusammen siehst, musst du es mir sagen«, flüsterte Celeste. Dimity fand diese Begegnung so seltsam, dass sich ihr Mund ganz trocken anfühlte, und sie wollte sich schon weigern, als sie den Ausdruck in Celestes Augen sah. Da steckte etwas wie Panik unter ihrer Wut. Etwas, das gehetzt und verzweifelt wirkte. Di mity nickte hastig. »Braves Mädchen. Brave Mitzy.« Celeste wandte sich zum Gehen, blieb noch einmal stehen und fügte hinzu: »Erzähle meinen Mädchen nichts davon, ich bitte dich.«
Als Dimity das nächste Mal Littlecombe aufsuchte, mit hochgestecktem Haar und in der Hoffnung, Charles anzutreffen, wurde sie enttäuscht. Der Tag war grau und trübe, also erklärte sie sich einverstanden, im Haus zu bleiben und Delphine und Élodie zu zeigen, wie man
Weitere Kostenlose Bücher