Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
hellsten.
Am dritten Tag holte sie gerade die Wäsche herein, als ihr Blick an einer von Valentinas Blusen hängen blieb. Sie gehörte zu ihren Lieblingsstücken, und Valentina trug sie oft, wenn sie einen neuen Gast zum ersten Mal empfing. Sie war aus leicht durchscheinender, hellblauer Leinengaze, ver jüngte sich in der Taille und an den Ärmeln durch kleine Fältchen und war am Busen eng geschnitten. Die Bluse hatte einen breiten, tiefen Ausschnitt mit Rüschen daran, und nur einer der Holzknöpfe vorne fehlte. Wenn Valentina sie anzog, musste sie ihre Brüste in das enge Mieder pressen, aus dem sie beinahe herauszufallen drohten und bei jeder Bewegung wackelten. Dimity rollte die Bluse sorgfältig zusammen und versteckte sie unter dem Bund ihres Rockes. Sie durfte sich auf keinen Fall dabei erwischen lassen, dass sie sich diese Bluse ausborgte. Die möglichen Folgen konnte sie sich nicht einmal vorstellen. Ehe sie das Haus verließ, kämmte sie sich energisch das Haar, obwohl ihr bei jedem Knoten, durch den sie mit dem Kamm fuhr, die Tränen in die Augen schossen. Dann steckte sie es mit Nadeln hoch, aber so, dass noch ein paar lose Strähnen ihren Hals umspielten. In sicherem Abstand zu ihrem Häuschen, hinter einer Hecke versteckt, zog Dimity Valentinas Bluse an. Sie war kleiner als ihre Mutter, ihre Taille schmaler und ihr Busen weniger üppig, doch die Bluse passte wunderbar. Sie hatte zwar keinen Spiegel, um sich darin zu betrachten, doch als sie auf ihre Brust in dem weiten Ausschnitt hinabschaute, wusste sie, dass sie nicht mehr den Körper eines Kindes betrachtete.
Dimity setzte sich mit einem Korb voll Bohnen in ein Fleckchen blühenden Klee in der Nähe des Klippenpfades und begann, die Fäden abzuziehen. Das war nur ein Versuch, aber sie hatte Charles oft diesen Weg nehmen sehen, und es dauerte nicht lange, bis sie tatsächlich seine große Gestalt näher kommen sah. Ihr Herz raste wild hinter ihren Rippen, und sie setzte sich aufrechter hin, nahm die Schultern zurück und zupfte an der Bluse, bis der Ausschnitt ihre Schultern und die zarten Schlüsselbeine freigab und die weichen Rundungen vor ihren Achselhöhlen. Die Sonne beschien warm ihre Haut. Sie bemühte sich, das Gesicht zu entspannen, aber es fiel ihr schwer, im grellen Licht nicht die Augen zusammenzukneifen. Schließlich musste sie doch blinzeln, die Augenbrauen sinken und die Augen schmal werden lassen. Sie schürzte die Lippen, verärgert über das gleißende Licht und nervös, weil sie nicht wieder aufblicken konnte, ohne ihren Plan zu verderben, sich hier von ihm finden zu lassen, ganz unversehens. Die Brise bewegte die feinen Strähnen in ihrem Nacken und ließ sie erschauern. Und dann hörte sie die Worte, die sie fast ein Jahr lang so herbeigesehnt hatte, und schloss selig die Augen.
»Mitzy, nicht bewegen. Bleib genau so«, sagte Charles. Also rührte sie sich nicht, obwohl sie innerlich lächelte und etwas in ihr zitterte, als müsste sie jeden Moment laut lachen. Mitzy, nicht bewegen.
Es war eine schnelle Zeichnung – offen auslaufende Stri che und angedeuteter Raum, spärlich, schemenhaft. Doch irgendwie fing sie trotzdem den Sonnenschein ein, und selbst die hinter Dimitys konzentriert gerunzelter Stirn verborgene Freude erschien auf dem Papier. Charles beendete die Zeichnung ohne einen letzten, schwungvollen Strich – da war nur dieses allmähliche Nachlassen der Bewegung in seiner Hand mit dem Stift, ein Stirnrunzeln und ein kurzes, scharfes Ausatmen durch die Nase. Dann blickte er auf, drehte lächelnd den Skizzenblock um und zeigte ihr das Bild. Bei dem Anblick stockte ihr der Atem, und eine zarte Röte stieg an ihrem Hals empor. Wie sie gehofft hatte, zeigte die Zeichnung tatsächlich eine Frau, kein Kind, doch sie war nicht darauf gefasst gewesen, wie wun derschön diese junge Frau sein würde mit ihrer glatten, von der Sonne beschienenen Haut und dem Gesicht, auf dem ihre Gedanken spielten. Erstaunt blickte Dimity zu Charles auf.
In ihrem Zuhause gab es einen Spiegel im Flur. Das uralte, silbrige Glas war mit zahlreichen Altersflecken übersät. Dimity kannte ihr eigenes, früheres Gesicht nur in diesem Kreis mit zehn Zentimetern Durchmesser, eher formlos und in trübem Licht. Ihr Spiegelbild erinnerte sie stets an eine Sklavin im Laderaum eines Schiffes, die durch ein Bullauge nach draußen späht. Das Weiße in ihren eigenen Augen kannte sie gut. Doch hier, auf dieser Zeichnung, sah sie ein völlig anderes
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