Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Horizont stand, und Dimity trat ihm in den Weg.
»Mitzy!« Ein Lächeln, ein freudiger Ton lag in seiner ge dämpften Stimme, und Dimitys Ohren dröhnten vor Glück. »Mein Liebes. Geht es dir gut?«
»Ja«, sagte sie und nickte atemlos.
»Schön, schön. Da drin ist noch gar niemand wach, alles schläft tief und fest. An deiner Stelle würde ich Delphine noch eine gute Stunde geben, ehe du anklopfst. Sie hat mir erzählt, dass ihr bald wieder zusammen Pflanzen sammeln gehen wollt, stimmt das?« Dimity konnte nur stumm nicken. »Wunderbar. Also dann, viel Spaß. À bientôt. « Er ging mit langen, gemächlichen Schritten weiter die Auffahrt entlang und zündete sich eine Zigarette an.
Dimity hörte, wie hinter ihr der Riegel schnappte und die Tür sich mit leisem Quietschen öffnete. Sie wandte sich um und sah Celeste durch den Garten kommen, noch im Nachthemd. Ihr langes, dunkles Haar hing offen über ein smaragdgrünes Tuch, das sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Sie war nicht geschminkt, doch der Kuss der frühen Morgensonne auf ihrem Gesicht genügte, um sie so schön und gleichzeitig schrecklich erscheinen zu lassen wie eine Feenkönigin. Ihre Miene war traurig und entschlossen, doch ihre Schönheit ließ Dimitys Herz ein wenig welken vor Hoffnungslosigkeit.
»Bitte warte, Mitzy. Ich möchte mit dir sprechen«, sagte sie mit leiser Stimme.
»Ich wollte nur …« Dimity beendete den Satz nicht. Es spielte keine Rolle, welchen Vorwand sie anführte. Celeste hatte sie durchschaut.
»Dimity, hör mir zu … Ich weiß, was du empfindest, glaube mir, das weiß ich. Wenn seine Aufmerksamkeit auf dich gerichtet ist, fühlt sich das an wie Sonnenschein, nicht wahr? Und wenn diese Aufmerksamkeit sich etwas ande rem zuwendet, fühlt es sich an, als wäre die Sonne erloschen. Kalt und dunkel. Zwei Jahre lang hat er mich gezeichnet und gemalt, genau wie dich. Ich habe mich in ihn verliebt, und dabei ist es geblieben. Und ich glaube, dass er mich auch noch liebt, dass er mit mir zusammen sein will, und er liebt unsere Mädchen sehr. Wir sind eine Familie, Dimity. Das ist etwas Heiliges. Verstehst du, was ich dir sagen will? Er hat sich von dir abgewandt – in seiner Kunst, in seinen Gedanken. Und du musst dich auch von ihm abwenden, denn du wirst sie nicht zurückbekommen, wenn sie einmal fort sind. Ich sage dir das nur, weil ich es gut mit dir meine. Dein Leben … Dein Glück liegt bei einem anderen, nicht bei Charles. Verstehst du?« Celeste zog das Tuch fest um ihre Schultern zusammen, und Dimity sah Gänsehaut an ihren Unterarmen. Sie sagte nichts, und Celeste schüttelte leicht den Kopf. »Du bist noch so jung, Mitzy, noch ein Kind …«
»Ich bin kein Kind mehr!«, sagte Dimity und starrte auf ihre Füße hinab, während ihr Herz zu rasen begann und sie jedes Wort zurückwies, das die Frau aus Marokko sagte.
»Dann will ich mit dir wie mit einer Frau sprechen, und du wirst mich als Frau anhören und die Wahrheit begreifen. So sind das Leben und die Liebe. Manchmal brechen sie dir das Herz und töten deine Seele, rauben sie dir bei lebendigem Leib.« Sie ballte die Hand zur Faust und drückte sie an ihre Brust. »Auch diese Zeiten gehen vorbei, und irgendwann wirst du wieder heil und ganz sein. Aber erst, wenn du der Wahrheit ins Gesicht gesehen und sie tatsächlich erkannt hast. Du musst vergessen, was du nicht haben kannst. Ich weiß, dass du all das nicht hören willst, aber es muss sein. Komm später wieder und verbringe deine Zeit mit meinen Mädchen – mit meiner Delphine, die dich so gern hat. Aber geh jetzt, wohin du willst. Du tust mir leid, Mitzy. Wirklich. Du warst für all das nicht gerüstet, das erkenne ich jetzt.« Celeste wandte sich ab und ließ den Blick noch einen Moment auf Dimity ruhen, streng und traurig.
Aber Dimity konnte nicht wiederkommen, um Delphine zu sehen, weder an diesem noch am nächsten Tag. Sie wagte es nicht, aus Angst davor, dass Celeste die Wahrheit gesagt hatte und Charles sie nie wieder würde zeichnen wollen. Sie empfand eine seltsame Art Schwindel, wenn sie daran dachte – als stünde sie an einem stürmischen Tag ganz oben auf der Klippe und die Erde unter ihren Zehen bröckelte. Sie könnten ihr einfach entgleiten, erkannte sie plötzlich. So leicht aus ihrem Leben hinauswehen, wie sie hereingeweht waren, und sie ohne jede Hoffnung auf Rettung zurücklassen. Sie waren wie ein strahlendes Licht, in dem alles andere Schatten warf, und Charles leuchtete am
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