Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Geschöpf. Er hatte sie nicht mit Blut unter den Fingernägeln gezeichnet, leicht vornübergebeugt, damit man sie möglichst nicht bemerkte, nicht als Kind, das sich in Hecken versteckte. Er hatte hinter all das geblickt und gezeichnet, was sich darunter verbarg. Sie starrte mit offenem Mund erst die Zeichnung an, dann ihn. Charles schien sich über ihre Reaktion zu wundern und drehte die Zeichnung wieder zu sich herum.
»Sie gefällt dir nicht?«, fragte er und betrachtete das Bild mit gerunzelter Stirn. Doch dann schien auch er zu erkennen, was sich verändert hatte. Sein Mund wurde zu einem schmalen Strich, und ein Mundwinkel hob sich. »Das arme hässliche Entlein, das gezwickt und geschubst und ausgelacht wurde«, sagte er leise. Er lächelte. Dimity verstand ihn nicht. Sie hörte nur die Worte hässlich, arm, und war niedergeschmettert. »O nein, nicht doch! Meine liebe Mitzy! Da mit meinte ich … Also, die Geschichte geht so aus: ›Es spielt keine Rolle, ob man in einem Entenhof geboren wurde, wenn man in einem Schwanenei gelegen hat …‹ Das habe ich damit gemeint, Mitzy. Dass der junge Schwan sich am Ende als der schönste unter allen Vögeln entpuppt.«
»Würden Sie mir diese Geschichte erzählen?«, fragte sie atemlos.
»Ach, das ist nur eine alberne Kindergeschichte. Élodie wird sie dir gern vorlesen – eine ihrer Lieblingsgeschichten.« Charles machte eine wegwerfende Geste. »Komm mit. Diese Skizze ist ein guter Anfang, aber eben nur ein Anfang.«
»Ein Anfang wovon, Mr. Aubrey?«, fragte Dimity, als er aufstand. Er packte seine Tasche und den Klappschemel zusammen und ging in Richtung Bach davon.
»Von meinem nächsten großen Werk natürlich. Jetzt weiß ich ganz genau, was ich malen will. Du hast mich inspiriert, Mitzy!« Dimity eilte ihm nach und zupfte dabei die Bluse wieder über ihre Schultern, verwirrt, glühend und selig.
Den nächsten Nachmittag verbrachte sie mit Élodie und Delphine am Strand. Élodie sprang immer wieder in die Wellen und kreischte im eiskalten Wasser, und zwischen drin erzählte sie Dimity die Geschichte vom hässlichen Ent lein. Dimity lächelte die ganze Zeit über und freute sich, dass Charles sie offenbar so sah.
»Die Geschichte kennt doch jeder, Mitzy«, erklärte Élodie geduldig und beobachtete die sprudelnden Wellen, die um ihre knochigen Knie schäumten. Delphine schwamm in ihrer Nähe hin und her, und sie lachte und zwinkerte Dimity zu, die ihre Hose hochgekrempelt hatte, mit einem Eimer im flachen Wasser um die Felsen herumwatete und Muscheln und essbaren Seetang sammelte.
»Und dank dir kenne ich sie jetzt auch, Élodie«, sagte Dimity. Ihr Glück machte sie großherzig.
»Warum wolltest du sie gerade jetzt hören?«, fragte das jüngere Mädchen.
»Ach, aus keinem bestimmten Grund. Jemand hat sie erwähnt, weiter nichts«, log Dimity mühelos. Sie war ganz ruhig und fühlte sich, als glühte sie. So liebst du eine Frau, Charles – indem du ihr Gesicht zeichnest.
Als sie spät am Nachmittag nach Littlecombe zurückkehrten, fanden sie den Tisch nur halb gedeckt vor, und Celeste saß stocksteif auf der Bank. Sie hielt ein Blatt Papier in der Hand, das sie mit gequälter Miene studierte.
»Was ist denn, Mummy? Fühlst du dich nicht gut?«, fragte Delphine und setzte sich zu ihr.
Celeste schluckte und blickte stirnrunzelnd auf, als hätte sie die Mädchen im ersten Moment gar nicht erkannt. Doch dann lächelte sie schwach und legte das Blatt Papier auf den Tisch. Es war Charles’ neueste Zeichnung von Dimity. Dimitys Herz tat einen lauten Schlag, wie eine Glocke.
»Doch, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung. Ich habe nur ein bisschen aufgeräumt und dabei diese Zeichnung von deinem Vater gefunden. Sieh dir nur unsere Dimity an, sieh, wie bezaubernd sie ist!«, rief Celeste aus, und obwohl die Worte großzügig waren, klangen sie spröde.
»Oh, schau doch nur, Mitzy! Du siehst wirklich wunderhübsch aus«, sagte Delphine.
»Plant er denn ein weiteres Gemälde mit dir? Hat er davon gesprochen?«, fragte Celeste.
»Ich glaube, er hat so etwas erwähnt«, sagte Dimity, und obwohl sie sich ein wenig genierte, das auszusprechen, hätte ein Teil von ihr es am liebsten herausgeschrien – dass Celeste sich geirrt hatte und Charles sie sehr wohl noch zeichnen wollte, dass er sich nicht etwas anderem zugewandt und das Interesse an ihr verloren hatte. Celeste holte tief Luft und stand von der Bank auf.
»Seltsam, diese Wendung. Ich hatte erwartet,
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