Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
zu.
Sie folgte Charles um eine Ecke in eine steile, gepflasterte Straße, und er wandte den Kopf zu ihr um. »Pass auf, wo du hintrittst, die Schlachter sind ganz in der Nähe.« Verblüfft richtete Dimity den Blick auf den Boden statt in die Höhe und sah ein Bächlein aus hellrotem Blut, das sich auf den Pflastersteinen kräuselte. Hastig trat sie beiseite und betrachtete eine einzelne weiße Feder, die wie ein winziges Boot auf einem grausigen Fluss vorübertrieb.
»Wie viele Tiere wohl so viel Blut vergießen können?«, fragte sie.
»Viele, viele. Aber das ist blutiges Wasser, kein reines Blut. Die Schlachter spülen es eimerweise hinaus auf die Straße«, erklärte Charles. Er warf ihr einen kurzen Blick zu. »Eine Jägerin wie du graust sich doch gewiss nicht vor Blut?«
»Nein, Mr. Aubrey«, sagte sie und schüttelte den Kopf, obwohl ihre Knie auf eine seltsam schwächliche Art zitterten. Es gefiel ihr, dass er sie eine Jägerin genannt hatte. Der Geruch des Blutes war stark und durchdringend. Sie wich vorsichtig einen weiteren Schritt von dem ekelhaften Rinnsal zurück, blieb mit der Ferse an etwas hängen und stolperte. Sie blickte hinab in das Auge einer Ziege, starr mit schlitzförmiger Pupille, und fuhr zurück. Da waren Hunderte von Augen, und alle glotzten ins Leere. Ein Haufen abgetrennter Ziegenköpfe, aus deren Hälsen es rot tröpfelte, mit geraden kleinen Zähnen hinter gebleckten Lip pen. Der alte Mann hinter diesem grausigen Haufen lachte über Dimity, und mit flauem Magen eilte sie Charles hinterher.
Zu Mittag aßen sie nicht in einem richtigen Restaurant, sondern in einer Nische in einer Hauswand, umgeben von hölzernen Fensterläden, wo eine alte Frau Brotfladen ganz dünn zog und rasch auf einer Eisenplatte buk, die vor Hitze rauchte. Sie belegte die Fladen mit einer Handvoll Rührei und Oliven, faltete sie geschickt zusammen und reichte sie Charles. Sie setzten sich auf eine uralte Treppenstufe gegenüber, verbrannten sich die Lippen an dem heißen Brot und wedelten gegen zahlreiche dicke, blau schillernde Fliegen an, die sie umschwärmten. Ohne dass sie etwas bestellt hätten, kam ein Junge mit zwei Gläsern Tee herüber, und Charles wischte sich die Hände an der Hose ab, nahm sie entgegen und gab dem Jungen dafür eine Münze. Er schien sich ganz entspannt und wohl zu fühlen, ganz vertraut mit dem Leben hier, das Dimity so fremdartig erschien. Sie bemühte sich, nicht allzu offenkundig zu staunen und die kalten, neugierigen Blicke der arabischen Männer zu igno rieren, die sie im Vorbeigehen musterten. Als wäre diese Aufmerksamkeit auch Charles auf einmal aufgefallen, lächelte er ihr kurz zu.
»Zieh nicht auf eigene Faust los, ja, Mitzy? Wahrscheinlich bist du hier recht sicher, aber in der Altstadt verläuft man sich leicht. So ist es mir bei meinem ersten Besuch hier auch ergangen. Ich habe vier Stunden gebraucht, um wieder herauszufinden! Letzten Endes habe ich mich einfach für eines der Mulis entschieden, die schwer bepackt an mir vorbeigeführt wurden, und bin ihm gefolgt. Zum Glück hat es mich zu einem der alten Stadttore geführt, und von dort aus habe ich dann den Rückweg gefunden. Aber du bleibst lieber dicht bei mir.«
»Das mache ich, versprochen«, sagte sie. Charles biss wie der in sein gefülltes Fladenbrot und kaute einen Moment lang nachdenklich vor sich hin.
»In mir reift ein neues Gemälde. Ich kann es noch nicht richtig fassen, und ich glaube, es ist eher Wüste, nicht Stadt … Nun, wir werden sehen. Ich muss dir unbedingt noch die Gerberei zeigen, die Gruben sind ganz erstaunlich. Aber nicht so bald nach dem Essen, denke ich. Sie riechen sehr stark«, erklärte er lächelnd. Dimity nickte. Sie wollte alles tun, alles, was Charles ihr vorschlug.
Ihre Maultiere trugen rosige Rohledersättel, deren Fleischgeruch sich mit dem Gestank der Tiere vermischte. Charles führte mit dem Maultiertreiber eine langwierige Verhand lung auf Französisch und gab ihm schließlich ein paar Mün zen mit der Miene eines Mannes, der weiß, dass man ihn betrogen hat. Erst als sie aufgestiegen und davongeritten waren, zwinkerte er Dimity zu und flüsterte, dass er einen Spottpreis herausgehandelt hatte. Dimity war nichts anderes übrig geblieben, als ihren Rock bis fast auf die Hüften hochzuziehen, um auf dem Maultier sitzen zu können. Sie schwitzte unter der Decke, die der Mann ihr gegeben hatte, damit sie Unterleib und Beine züchtig bedecken konnte. Sie hatte sie hinten
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