Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
bereits wieder im riad, als Charles und Dimity bei Anbruch der Dunkelheit staubig und durstig zurückkehrten. Die drei waren im Hof – Ce leste und Élodie hatten es sich auf einem der niedrigen Sofas bequem gemacht, und Delphine saß auf dem Rand des Springbrunnens und beugte sich darüber, um dem Spiel des Wassers zuzuschauen. Bei Charles’ Begrüßung blickte Celeste auf, und Dimity erschrak, als sie sah, dass ihre Augen rot und verschwollen waren, das Gesicht von salzigen Tränenspuren gezeichnet.
»Mein Liebling! Geht es dir nicht gut? Was ist passiert?«, fragte Charles und kniete sich vor sie hin. Seine Worte, seine Haltung riefen in Dimity ein scheußliches Gefühl hervor. Sie blieb zurück und schlug einen Bogen zu Delphine, die jedoch nicht aufblickte. Als sie an Celeste vorbeiging, spürte sie, wie deren Blick zu ihr herüberhuschte. Dimity brauchte ihr Gesicht nicht zu sehen, um den Ausdruck darauf zu erraten – dieselbe harte Miene wie damals, als Celeste in der Küche von Littlecombe Charles’ Zeichnung von Dimity be trachtet hatte.
»Das erzähle ich dir später. Wo hast du gesteckt? Wir haben uns Sorgen gemacht.« Celestes Stimme klang heiser.
»Nur oben bei den Gräbern. Ich habe dir doch gesagt, dass ich dort hinaufwollte, der Aussicht wegen …«
»Und du hast Mitzy mitgenommen? Hatten wir nicht ausgemacht, dass wir uns die Gräber morgen alle zusammen anschauen würden? Delphine wollte so gern dorthin …«
»Wir können doch wieder hingehen. Oder du gehst mit den Mädchen, wann immer du willst. Und natürlich habe ich Mitzy mitgenommen – sie war den ganzen Vormittag lang alleine hier.«
»Mitzy wird gewiss damit fertig, mal ein wenig allein zu sein«, erwiderte Celeste, und ihre Stimme nahm einen gefährlich scharfen Unterton an. Dimity wagte es nicht, aufzublicken, und vor ihr hielten Delphines Finger, die einen kleinen Strudel ins Wasser gerührt hatten, plötzlich still.
»Ich fand das nicht schön für sie«, sagte Charles vor sichtig.
»Unsere Töchter würden vielleicht auch gern ein wenig Zeit mit dir verbringen, Charles.«
»Du hast mit unseren Töchtern deine Familie besucht. Soll denn die ganze Welt die Luft anhalten und auf deine Rückkehr warten?«, gab Charles kalt zurück. Eine spannungsgeladene Pause entstand. Dimity blickte vorsichtig auf und sah, wie die beiden einander anfunkelten. Élodie, noch immer an ihre Mutter geschmiegt, wirkte angespannt und unglücklich.
»Mädchen. Geht hinauf in euer Zimmer«, sagte Celeste. Alle drei gehorchten ohne Zögern.
Die Stimmen der beiden hallten vom Hof zu ihnen herauf, und Dimity wollte sich nicht anmerken lassen, dass sie sie unbedingt hören wollte. Als wüsste Élodie es trotzdem, sang sie tonlos ein Liedchen über einen Frosch vor sich hin, immer wieder, sodass die Worte ihrer Eltern nicht zu verstehen waren. Mal leise, mal laut, mal geflüstert, dann wieder in zornigem Crescendo von Celeste toste der Streit unter ihnen wie die stürmische See. Delphine beugte sich über die Brüstung ihres kleinen Balkons nach draußen, als wollte sie so weit wie möglich fort von alledem. Da Dimity sowieso nicht hören konnte, worum es bei dem Streit ging, setzte sie sich schließlich zu ihr. Delphine warf ihr ein kleines, sorgenvolles Lächeln zu.
»Das tun sie manchmal. Aber danach haben sie sich immer wieder lieb«, sagte sie.
»Warum streiten sie denn? Vorhin sah es so aus, als hätte deine Mutter geweint.«
»Sie war traurig wegen unseres Besuchs bei grandmère et grandpère .«
»Weshalb denn?«
»Na ja … Ihre Mutter hat sich so gefreut, sie zu sehen. Wir haben mit ihr zu Mittag gegessen, und es war sehr nett. Sie ist eine Berberin, aber das weißt du ja schon. Und dann ist ihr Vater nach Hause gekommen und hat …«
»Delphine! Musst du ihr alles erzählen?«, fauchte Élodie und unterbrach damit ihr Liedchen. In der kurzen Stille danach drang Charles’ Stimme zu ihnen herauf:
»Du bist völlig irrational. So ist das immer, wenn du bei deinen Eltern warst!«
»Ich habe alles für dich aufgegeben!«, schrie Celeste.
»Aber ich habe dir alles gegeben, was du wolltest!«, erwiderte Charles. Rasch nahm Élodie ihren Gesang wieder auf.
»Was hat ihr Vater denn getan?«, fragte Dimity.
»Er … Also, er ist Franzose und schon ziemlich alt. Mummy sagt manchmal, er stammt aus einem anderen Zeitalter, und damit meint sie, dass er sehr altmodisch ist. Aber er will sie nicht sehen und spricht nie mit ihr oder mit uns, weil
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