Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
Vom Netzwerk:
Élodie und Dimity lauschten hingerissen Delphines abenteuerlichen Geschich ten von weißen Sklavenhändlern in Marokko, die Europäer entführten. Die Männer mussten schrecklich schuften und Paläste und Straßen und ganze Städte bauen, bis sie tot umfielen. Die Frauen wurden gezwungen, fette, hässliche Sul tane zu heiraten und auf ewig in deren Harem zu leben, ohne je hinaus zu dürfen. Irgendwann ergaben die beiden jüngeren Mädchen sich dem Schlaf, doch obwohl Dimity so erschöpft war, blieb sie noch lange wach, nachdem es im ganzen Haus still geworden war. Sie saß am Fenster, an die warme Balustrade gelehnt, atmete tief durch die Nase ein und versuchte, einzelne Gerüche aus der schwer duftenden, heißen Luft herauszuriechen.
    Sie erschnupperte Rosen und Jasmin, den harzigen Duft von Zypressen, beinahe wie die vom Seewind gepeitschten Kiefern in Dorset, aber doch ein wenig anders. Die Brise trug einen satten Kräuterduft heran wie Salbei oder Rosmarin, den Gestank von heißen Tierleibern und Mist und auch von menschlichen Fäkalien und Abwasser – ein Geruch wie auf dem Abtritt, süßlich und vertraut. Da war ein scharfer Geruch wie nach Leder und Fleisch, dessen Quelle sie nicht erraten konnte, und ein metallischer Geruch, so ähnlich wie Blut, der sie beunruhigte. Den kribbelig scharfen Duft von Gewürzen kannte sie annähernd von den Gerichten, die sie bisher gegessen hatten, und der Bastilla, die Celeste in Littlecombe oft kochte. Ihr fiel auch auf, was unter alledem fehlte – der vertraute, salzige Hauch der See. Der Gedanke an Littlecombe versetzte Dimity einen Stich, und sie bemerkte, dass Blacknowle weit in die Ferne gerückt zu sein schien – nicht nur in Meilen, sondern auch in Zeit gemessen. Es war, als sei ihr ganzes Leben bisher ein Traum gewesen, der jetzt in ihrer Erinnerung rasch verblasste, wie alle Träume es tun, wenn man erst erwacht ist. Dies war ein ganz neues Leben, in dem der Herzschlag der See sie nicht mehr fesselte und ihr eigenes Herz zwang, in seinem Rhythmus zu schlagen. Ein Leben, in dem sie frei von allen Beschränkungen war, ein wenig fremd und anders. Sie packte den warmen Stein noch fester und war so glücklich, dass sie es beinahe nicht aushalten konnte.
    Nach dem Frühstück am nächsten Morgen machte Celeste ihre beiden Töchter für den Besuch bei ihrer Familie zu recht, die außerhalb der Mauern von Fès el-Bali in den großzügigeren Straßen von Fès el-Jedid wohnte. Sie kämmte den Mädchen das Haar, steckte es mit Klammern ordentlich zurück und zupfte mit flinken, nervösen Fingern an ihren Baumwollröcken und Blusen. Dimity schaute an sich herunter und strich verlegen den abgetragenen Filzrock glatt, den sie zu Hause meistens trug.
    »Sehe ich denn so ordentlich genug aus?«, fragte sie be sorgt. Celeste blickte stirnrunzelnd auf, und Dimity sah, dass sie die Frage erst jetzt begriff.
    »Ach, Mitzy! Es tut mir leid, aber diesen Besuch werde ich nur mit meinen Mädchen machen. Ich habe meine Eltern seit über einem Jahr nicht mehr gesehen … Und nach so langer Zeit möchten wir beim ersten Wiedersehen unter uns sein. Verstehst du das?« Sie trat vor Dimity, legte ihr beide Hände auf die Schultern und musterte sie auf Armeslänge. Dimity nickte mit einem Kloß in der Kehle. »Braves Mädchen. Charles ist spazieren gegangen, aber wenn er zurückkommt, möchte er sicher mit ein paar Skizzen beginnen. Wir bleiben bis … Nun ja, ich weiß nicht genau, wie lange. Das hängt von … Also, wir sehen uns später.« Sie schob die jüngeren Mädchen vor sich her zur Tür, und beide lächelten Dimity im Vorbeigehen an – Delphine entschuldigend, Élodie herzlos. In der Tür wandte Celeste sich noch einmal zu ihr um. »Diese Wollsachen kannst du hier nicht tragen. Sie sind viel zu warm. Wenn wir zurückkommen, suche ich dir leichtere Kleider.« Sie nickte, um ihr Versprechen zu bekräftigen, und war verschwunden.
    Dimity, allein zurückgelassen, schlang fest die Arme um den Oberkörper und kämpfte gegen die Angst und Nervosität an, die in ihr aufstiegen. Sie war gelähmt von Unsicherheit und wusste nicht, ob sie in ihrem Zimmer blei ben oder es verlassen sollte. Sie wusste nicht, was richtig war, welche Regeln hier galten. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Treppe und spähte in den Innenhof hinunter, wo der Springbrunnen leise plätscherte und der lockige Junge mit einem steifen Reisigbesen den Boden fegte. Gedämpfte Stimmen hallten zu ihr herauf, doch die Worte

Weitere Kostenlose Bücher