Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
…«
»Weil sie nicht verheiratet sind?«
»Ja.« Die beiden Mädchen schauten eine Weile schweigend auf die Lichter der Stadt hinaus, während Élodie allmählich müde wurde und der Text ihres Liedes immer unsinniger. Die anderen Stimmen von unten waren auf einmal nicht mehr zu hören, und als Élodie verstummte, lauschten alle drei mit gespitzten Ohren auf das leiseste Geräusch. Es kam keines, und nach einer halben Minute atmete Delphine tief aus, und ihre Schultern sanken herab. »Siehst du. Schon vorbei«, sagte sie erleichtert.
»Warum haben sie denn nicht geheiratet?«, fragte Dimity.
»Herrgott, Mitzy, steck deine Nase nicht in Dinge, die dich gar nichts angehen!«, sagte Élodie. Im Stillen gab Dimity ihr sogar recht, aber sie musste es trotzdem wissen.
»Daddy kann nicht. Es geht nicht, weil …«
»Delphine! Du weißt genau, dass du das niemandem sagen darfst!«, rief Élodie aus.
»Ich erzähle es auch niemandem«, drängte Dimity, doch Delphine biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf.
»Ich darf es dir nicht sagen, aber er hat einen guten Grund dafür. Meistens macht es ihr nichts aus. Nur, wenn ihr Vater sie so behandelt. Er will … Er will sie nicht einmal im Haus haben. Er war so wütend, als er heute nach Hause kam und sie da war, aber man sieht ihm an, dass ihm das auch wehtut. Es war schrecklich. Als Erstes hat er von ihr verlangt, ihm ihre Hand zu zeigen, und als er gesehen hat, dass kein Ring daran ist, war es vorbei. Er hat uns weggeschickt. Arme Mummy! Sie hat ihren Vater nämlich sehr lieb.« Delphine sprach voll milder Verzweiflung, doch Dimity hörte sie kaum. Ihre Gedanken überschlugen sich, sammelten und sortierten, was sie gehört hatte. Sie vergegenwärtigte sich Celestes Blick vorhin im Hof und wie Élodie ihre Schwester daran gehindert hatte, Dimity die ganze Geschichte zu erzählen. Sie überlegte mögliche Gründe, warum Charles Celeste nicht heiraten konnte, und als sie schließlich die Antwort fand, loderte Freude in ihr empor, als ginge die Sonne auf.
Am nächsten Tag bat Celeste Dimity in ihr Zimmer und öffnete eine Segeltuchtasche, die auf dem Bett lag. Sie war voller Kleidung.
»Das sind Sachen, die ich getragen habe, als ich in deinem Alter war. Ich dachte, sie könnten dir passen. Ich habe sie gestern von zu Hause mitgenommen … Sie werden angenehmer für dich sein, solange du hier bist.« Sie holte ein paar Kleidungsstücke heraus und reichte sie Dimity. Ihre Augen waren nicht mehr verquollen, doch ihre Miene wirkte noch immer schwer vor Traurigkeit. Das offene Haar hing ihr wirr ums Gesicht. »Und? Möchtest du sie tragen oder nicht?«
»Ja, gern, Celeste. Vielen Dank«, sagte Dimity bescheiden und rollte die Kleidung, die Celeste ihr gereicht hatte, zu einem Bündel zusammen. Die Baumwollstoffe fühlten sich weich und leicht an.
»Na, dann steh nicht so herum! Geh und probier sie an!«, fauchte Celeste. Einen Moment lang blitzten ihre Augen zornig, doch dann lag wieder Traurigkeit darin. »Entschuldige, Mitzy. Ich bin nicht böse auf dich. Du kannst ja nichts dafür, dass du hier bist. Ich bin wütend auf … Männer. Die Männer in meinem Leben! Die Regeln, die sie für uns aufstellen, damit sie einen Stock haben, mit dem sie uns schlagen können. Geh jetzt, geh. Probier die Sachen an. Die Hosen zieht man zuerst an, und die lange Tunika kommt darüber.« Sie winkte Dimity hinaus, wandte sich wieder der Segeltuchtasche zu, nahm weitere Kleidungsstücke heraus und sortierte sie auf dem Bett in passende Stapel.
In ihrem Zimmer zog Dimity mit Delphines Hilfe eine weit gebauschte Hose an. Sie wurde mit einem Band um die Hüfte geschnürt und hatte Knöpfe an den breiten Bündchen. Darüber kam eine leichte Bluse und eine lange, offene Tunika mit weit schwingenden Ärmeln, die mit einer breiten Schärpe auf den Rippen unter ihrer Brust zusammengebunden wurde. Das Ganze ähnelte der Aufmachung, in der sie Celeste in Blacknowle so oft gesehen hatte, doch an ihrem eigenen Kör per fühlte sie sich fremdartig und ungewohnt an. Sie drehte sich im Kreis und sah zu, wie die lange Tunika hinter ihr her wirbelte. Sie war violett mit Stickerei am Ausschnitt und im Vergleich zu ihrem schweren Filzrock so leicht, dass sie sie kaum spürte. So feinen Stoff hatte sie noch nie getragen. Sie schlüpfte in ihre Schuhe, und Delphine lachte.
»Sehe ich lächerlich aus?«, fragte Dimity.
»Du siehst ganz reizend darin aus, aber du kannst dazu unmöglich diese
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