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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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tastenden Hände beiseite. Mit geblähten Nasenflügeln biss er die Zähne zusammen, und sie sah einen großen inneren Kampf in ihm toben und hoffte, dass er ihn verlieren würde. Doch so kam es nicht. Stattdessen verschränkte er die Arme vor der Brust, holte tief Luft und pustete sie kräftig wieder aus. »Nun komm, wir wollen weitergehen und nicht mehr darüber sprechen. Nicht mehr lange, dann wirst du einen jungen Burschen daheim sehr glücklich machen und ihm eine bezaubernde Frau sein. Aber nicht mir, Mitzy. Das geht nicht. Schlag dir das gleich aus dem Kopf.« Er ging weiter die Gasse entlang, und es dauerte einen Moment, bis Dimitys Füße ihr gehorchten und sie ihm folgen konnte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, um auch noch die letzten Spuren von ihm einzufangen.
    Als sie am nächsten Tag aufwachte, war ihr schwindelig, und sie fühlte sich schwach. Sie lag da, spürte die Matratze, die unangenehm an ihrem verschwitzten Rücken drückte, und konnte nicht einmal daran denken, aufzustehen oder zu frühstücken. Delphine umsorgte sie und brachte ihr Wasser, während Élodie von der Tür aus zusah, unverhohlen neugierig und nicht bereit zu helfen. Als Delphine das Zimmer verlassen hatte, kam sie zu Dimity herüber und schaute auf sie herab.
    »Wenn du dich krank stellst, weil du glaubst, dass du so wieder einen Tag mit Daddy verbringen kannst statt mit uns, dann hast du dich geschnitten. Er ist schon fortgegangen, zu einem befreundeten Künstler, der gestern Abend in Fes angekommen ist. Also wirst du den ganzen Tag lang allein hier herumsitzen«, erklärte sie kühl. Dimity starrte sie an, und Élodie erwiderte ihren Blick, ohne zu blinzeln. Dimity hätte diesem dunklen, scharfsinnigen Mädchen nie die Befriedigung gegönnt, sie bei einer Täuschung ertappt zu haben, indem sie jetzt aufstand – selbst wenn ihr nicht so elend gewesen wäre. In dem Blick, den sie wechselten, lag all die Macht, die Élodie nun besaß, weil sie Dimitys wahre Gefühle erraten hatte, und all die Willenskraft, die Dimity ihr entgegensetzen würde. Schließlich lächelte Élodie, als hätte sie gewonnen, wandte sich ab und ging zur Tür. »Alle wissen es – ist dir das klar? Du bist so leicht zu durchschauen«, sagte sie noch. Dimity blieb ganz still liegen und fühlte sich noch elender als zuvor. Die Welt schien sich zu neigen, sodass sie das Gleichgewicht verlor und sich gut festhalten musste, um nicht herunterzufallen.
    Einige Stunden lag sie da wie in Trance. Dann stand sie unsicher auf, zog sich an und trat hinaus auf den Balkon, um auf den Hof hinabzuschauen. Es war niemand zu sehen. Sie ging zu Charles’ und Celestes Zimmer, lauschte einen Moment lang und klopfte dann leise an. Es kam keine Antwort, nichts regte sich. Sie klopfte noch einmal lauter an und hörte immer noch nichts. Ihre Kehle war trocken und spannte schmerzhaft. Sie wandte sich ab, hielt inne, und einen Augenblick später hatte sie, ohne darüber nachzuden ken, die Tür geöffnet und das Zimmer betreten. Die Fensterläden waren geschlossen, damit der Raum trotz der Hitze des Tages kühl blieb. Im dämmrigen Licht, das durch die Ritzen fiel, blickte Dimity sich um. Sie betrachtete die Kleider und Schuhe, die herumlagen, Charles’ Stapel Zeichnungen und kleiner Leinwände, seine Bücher und Kästchen voller Stifte und Pinsel. Vor dem Fußende des Bettes blieb sie stehen und versuchte zu erkennen, auf welcher Seite Celeste schlief und auf welcher Charles. In den Kissen waren noch die Abdrücke ihrer Köpfe zu sehen, und auf einem fand sie ein langes, schwarzes Haar, also ging sie auf die andere Seite und strich leicht über das Kissen, auf dem sein Kopf gelegen hatte. Langsam sank sie auf die Knie, beugte sich hinab und schnupperte nach seinem Duft. Doch die Farbe des gestreiften Stoffes verströmte einen zu starken Ge ruch, sodass sie sonst nichts riechen konnte. Sie versuchte sich auszumalen, wie Charles im Schlaf aussehen mochte, und ihr fiel auf, dass sie ihn noch nie so gesehen hatte – sein Gesicht weich und verletzlich, das Spiel seiner Augen in flackernden Träumen hinter den geschlossenen Lidern, die ruhige, gleichmäßige Tiefe unbewusster Atemzüge. Die Vor stellung weckte ein ziehendes Gefühl, als sei etwas in ihr zart zerrissen. Sie schwamm in der himmlischen Erinnerung an seinen Kuss, der sich ihrem Gedächtnis aufgeprägt hatte wie ein Wappen.
    In einer Ecke des Zimmers stand ein Holztisch mit einem Spiegel und einem kleinen

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