Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
und die Perlen spritzten auseinander und prasselten wie Hagelkörner auf den Fußboden.
»Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es wagen?«, spie sie aus. » Coucou! Coucou dans le nid! Du bist ein Kuckuckskind!«
»Ich habe mir doch nichts Böses dabei gedacht!«, rief Dimity, der Tränen die Sicht verschleierten. Celeste packte ihr Handgelenk, so fest wie in einer Schraubzwinge, und sah Dimity aus allernächster Nähe ins Gesicht, sodass sie den fiebrig heißen Atem der Frau an der Wange spüren konnte.
»Lüg mich ja nicht an, Mitzy Hatcher! Wag es nicht, mich anzulügen! Hast du mit ihm geschlafen? Hast du das? Sag es mir!«
»Nein, ich schwöre, ich habe nicht …« Ohne Vorwarnung schlug Celeste ihr hart ins Gesicht. Die ganze Kraft ihres Arms lag in dieser flachen Hand. Dimity hatte keine Zeit, sich dafür zu wappnen, und wurde von dem Schemel ge schleudert, der klappernd umkippte. Sie schlug mit dem Kopf gegen die Tischkante, und rasender Schmerz explodierte in ihrem Schädel. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
»Lügnerin!«, kreischte Celeste. »Oh, was war ich für eine Närrin . Für wie dumm du mich halten musst! Jetzt steh auf. Steh auf!«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, weinte Dimity.
»Dich in Ruhe lassen? Damit du ihn beobachten und begehren und von mir fortlocken kannst? Damit du alles stehlen kannst, was mir lieb und teuer ist? Nein, gewiss nicht. Steh auf«, befahl Celeste erneut, und ihre Stimme klang so schrecklich, dass Dimity sich nicht zu widersetzen wagte. Sie rappelte sich auf und wich von der Frau zurück. Celeste bebte von Kopf bis Fuß und starrte sie mit geballten Fäusten an, Unheil verkündend wie eine Gewitterfront.
»Und jetzt verschwinde! Geh mir aus den Augen – ich kann dich nicht mehr sehen! Hinaus mit dir!«, schrie sie. Blindlings ergriff Dimity die Flucht. Sie taumelte die Treppe hinunter und wäre beinahe gestürzt. Unten riss sie die große Tür auf und rannte die staubige Straße entlang, ohne einen Blick zurück zu wagen. Binnen Sekunden hatte die Stadt sie verschlungen und zog sie immer tiefer hinein in ihr verwinkeltes Herz.
9
Regen tropfte durch den Rauchfang und hinterließ kleine Krater in der kalten Asche im Kamin und glänzende schwarze Flecken auf dem Rost. Das geschah selten – normalerweise kam der Regen vom Meer her und wurde schräg über das Land geweht und auch über das Dach ihres Häuschens. Einen so senkrecht fallenden, resoluten, beständigen Regen hatten sie nur wenige Male im Jahr. Dimity beobachtete, wie die Tropfen mit einem dumpfen Ton landeten – nein, kein einzelner Ton, erkannte sie dann, eine Silbe. Sie lauschte angestrengt und ängstlich. Noch drei Tropfen fielen, rascher aufeinander diesmal, und es war unverkennbar. Élodie. Sie hielt den Atem an und hoffte, dass sie sich getäuscht hatte. Ein einzelner Tropfen landete, ganz allein, und Hoffnung flammte in ihr auf. Doch dann wieder drei – Élodie. Mit einem Aufschrei wandte Dimity sich vom Kamin ab und wirbelte schnell genug herum, um einen Schatten an der Wohnzimmerwand zu erhaschen. Verkehrt herum – im Handstand.
»Élodie?«, flüsterte sie und zog den Blick von links nach rechts bis in jede Ecke des Raumes. Die flinke, scharf sinnige, clevere Élodie. Ein Wunder, dass sie nicht schon viel früher wiedergekehrt war – ein Wunder, dass sie keinen Weg herein gefunden hatte, bis jetzt. Der Zauber im Schornstein war einem entschlossenen Kind nicht gewachsen, schon gar nicht einem Kind, das sich nicht so leicht täuschen ließ. Runzeln auf einer jungen, weichen Stirn, ein Gänseblümchen in schwarzem Haar. Eine schmollende Un terlippe und der Wille zu kämpfen, zu streiten, infrage zu stellen.
Dimity floh vor ihr. Der Schatten stieß sich von der Wand ab, richtete sich auf und folgte ihr auf leichten, unbekümmerten Füßen. »Ich war es nicht!«, sagte Dimity über die Schulter, während sie in die Küche eilte. Da war sie sich sicher, und doch wieder nicht. Die Worte klangen richtig und wahr, aber darunter hörte sie Valentina lachen, und sie hatte so ein wissendes Funkeln in den Augen. Und schlim mer noch, viel schlimmer: einen Ausdruck von Respekt. Wider strebende, verschwiegene Hochachtung. Aber ich war es nicht! Sie drückte auf den Lichtschalter an der Küchenwand, aber es blieb dunkel. Die Glühbirne, bedeckt mit Staub und Spinnendreck, hing leblos und nackt an ihrem Kabel. Dimity stockte der Atem, und Furcht ließ ihre Finger zittern und ihre
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