Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
großen Ring bildete und genau über die Stelle verlief, wo das Haus gestanden hatte. Zach beobachtete ein paar Minuten lang die weißen Wellen kämme. Das Wasser sah kalt und feindselig aus, wie es sich schäumend am felsigen Ufer brach. Er konnte es grollen hören, ein dumpfer Unterton zu dem Wind, der um sein Auto pfiff. Dieses Geräusch und das matte graue Licht wirkten plötzlich furchtbar trostlos auf ihn. Sie schienen die Leere in seinem Inneren wie ein Echo zu verstärken, bis sie unerträglich wurde. Er kämpfte mit aller Macht dagegen an, indem er scharf nachdachte.
In Blacknowle hatte alles angefangen. Die Kluft zwischen seinen Großeltern, die Distanz seines Großvaters, die Zachs Vater so sehr geschmerzt hatte. Hier hatte Aubrey Zachs Familie in seinen Bann gezogen, und hier wirkte sein Gedenken noch immer wie ein Zauber. Hier kamen still und heimlich aus irgendeinem Versteck Bilder zum Vorschein, die von Aubrey sein mussten und doch nicht von ihm sein konnten. Zach öffnete die Autotür. In Erwartung von Kälte hatte er bereits die Schultern hochgezogen, aber die Brise war erstaunlich warm und feucht, und jetzt, da sie seine Ohren direkt erreichte, klang sie aufgeregt, beinahe überschwänglich. Winzige Wassertröpfchen trafen seine Haut und schienen ihn zu beleben und aus einer Trance zu we cken, die er erst im Nachhinein erkannte. Zach atmete tief durch. Er schloss das Auto ab und ging zum Rand der niedrigen Klippe. Ein schmaler Pfad wand sich über hellbraune Erde und Felsen zum Strand hinab, und ohne einen weiteren Gedanken machte Zach sich auf den Weg und rutschte halb auf losem Geröll abwärts, bis er den Strand erreichte. Er suchte sich einen Weg über die Felsen bis zum Wasser, hockte sich auf einen großen, flachen Gesteinsbrocken und tauchte die Finger ins Meer. Das Wasser war eiskalt. Als Kind wäre er trotzdem hineingewatet. Er hatte die Kälte scheinbar nie gespürt, obwohl es Fotos von ihm gab, auf denen er als magerer Junge in einer nassen Badehose einen Eimer Garnelen hochhielt und mit blau gefrorenen Lippen in die Kamera grinste.
Die düsteren Felsen unter der Wasseroberfläche erwachten, aus der Nähe betrachtet, in Schattierungen von Braun, Schwarz und Weiß zum Leben. Ein paar der Schaumklumpen, die vor den Felsen schwammen, hatten eine ungesund gelbliche Farbe, doch das Wasser selbst war glasklar. Manche Dinge waren einfach zu groß, dachte Zach plötzlich. Manchmal waren sie zu groß, als dass man weit genug zurücktreten könnte, um sie im Ganzen zu betrachten. Das wäre überwältigend, zu beängstigend. Besser war es, ganz nah heranzugehen, die Teile des Ganzen einzeln zu betrachten und sich erst einmal einen überschaubaren Ausschnitt vorzunehmen. Klein anfangen. Sich dem Gesamt bild allmählich annähern. Er steckte die Finger wieder ins Wasser und berührte einen flachen Stein, der genau in der Mitte von einem hellen weißen Streifen durchzogen war. Er dachte daran, ihn zu malen, ging im Geiste Farben durch, aus denen er genau die richtigen Töne mischen könnte, um das kalte Wasser und den makellosen Stein wiederzugeben. Er war nicht sicher, ob er das noch konnte, aber es waren viele, viele Monate vergangen, seit ihm zuletzt auch nur danach zumute gewesen war. Zach fühlte sich ruhiger. Er stand auf und wischte sich die Finger am Hosenboden trocken. Sein Magen knurrte, also ging er zurück zu seinem Wagen und fuhr nach Blacknowle, wo er auf der Hinfahrt an einem vielversprechend aussehenden Pub vorbeigekommen war.
Das Gasthaus hieß The Spout Lantern und war ein windschiefes Gebäude mit Mauern aus Portland-Kalkstein und einem welligen Ziegeldach. Die Lobelien in den Blumenampeln waren vertrocknet und ließen ihre dürren Stän gel traurig herabhängen. Das Schild über der Tür zeigte eine seltsam geformte Öllampe aus Metall mit einem Griff oben und einer Art langem Schnabel, der aus dem Gehäuse hervorragte – das Ding sah beinahe aus wie eine verunglückte Gießkanne. Der Pub lag in der Mitte des Dörfchens, wo die Häuser sich um einen winzigen grünen Dorf platz und eine Straßenkreuzung gruppierten. The Spout Lantern war das einzige Lokal, das er sehen konnte. Das verblasste Schild einer Mehlmarke an einem der Häuser wies auf einen längst geschlossenen Laden hin, ein Briefkasten an der Fassade eines anderen Gebäudes auf ein ehemaliges Postamt. Das Innere des Pubs war kühl und düster und durchzogen von dem säuerlichen Geruch nach Bier und Menschen, der
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