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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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fand er eine neue Zeichnung von Charles Aubrey im Auktionskatalog von Christie’s, und dann kam der Anruf.
    Er starrte gerade auf die Beschreibung der angebotenen Zeichnung und griff gedankenverloren nach dem Telefon. Es interessierte ihn kaum, wer da anrief.
    »Gilchrist Gallery«, sagte er.
    »Zach? Hier ist David.« Knappe Worte einer glatten, unergründlichen Stimme.
    »Oh, hallo, David«, entgegnete Zach, riss sich von dem Katalog los und versuchte, den Namen und die Stimme zu zuordnen. Er hatte das vage Gefühl, dass er dem Anrufer lie ber Aufmerksamkeit zollen sollte. Der gab einen verblüfften Grunzlaut von sich.
    »David Fellows, Haverley Verlag.«
    »Ja, natürlich. Wie geht’s, David?«, sagte Zach zu hastig. Vor Scham kribbelten seine Fingerspitzen wie früher in der Schule, wenn er nach seiner fehlenden Hausaufgabe gefragt wurde.
    »Sehr gut, danke. Also, ich habe eine ganze Weile nichts mehr von Ihnen gehört. Seit über anderthalb Jahren, um genau zu sein. Ich weiß, dass Sie mehr Zeit haben wollten, um das Manuskript fertigzustellen, und wir haben uns damit einverstanden erklärt. Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem man sich als Lektor fragt, ob ein Buch überhaupt irgendwann erscheinen wird …«
    »Ja, ach, bitte entschuldigen Sie die Verzögerung … Ich war … Also …«
    »Zach, Sie sind Wissenschaftler. Bücher brauchen nun einmal ihre Zeit, das ist mir sehr wohl bewusst. Ich melde mich nur, um Sie wissen zu lassen, dass jemand anders mit dem Entwurf eines Buches über Charles Aubrey an uns her angetreten ist …«
    »Wer?«
    »Das darf ich Ihnen aus Gründen der Diskretion nicht sagen. Aber der Entwurf ist sehr gut, der Autor hat uns bereits die Hälfte des Manuskripts vorgelegt und will es in vier bis fünf Monaten fertiggestellt haben. Das würde sehr schön mit der Aubrey-Ausstellung nächstes Jahr in der National Portrait Gallery zusammenfallen … Jedenfalls hat die Verlagsleitung mich angewiesen, Ihnen Dampf zu machen, um es geradeheraus zu sagen. Wir wollen einen guten neuen Titel über den Künstler im Programm haben, und wir wol len ihn nächsten Sommer veröffentlichen. Das bedeutet, dass wir Ihr Manuskript bis Januar bräuchten, spätestens Fe bruar. Was sagen Sie dazu?«
    Den Hörer fest ans Ohr gepresst, starrte Zach auf die Aubrey-Zeichnung in dem Katalog. Sie zeigte einen jungen Mann mit verträumtem Gesichtsausdruck. Er hatte glattes, helles Haar, das ihm in die Augen fiel, feine Gesichtszüge, eine gerade Nase und ein spitzes Kinn. Gesund sah er aus, ein wenig verwegen. Ein Gesicht, das Zach mit Kricketspielen am Jungeninternat assoziierte, mit stibitzten Sandwiches und mitternächtlichem Unfug im Schlafsaal. Dennis lautete der Titel, das Datum 1937. Es war die dritte Aubrey-Zeichnung dieses jungen Mannes, die Zach zu sehen bekam, und bei dieser hatte er noch deutlicher als bei den an deren das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war, als hörte er eine gesprungene Glocke schlagen. Irgendetwas klang schräg, misstönend.
    »Was ich dazu sage?«, echote Zach und räusperte sich. Unmöglich. Völlig undenkbar. Er hatte sein unstrukturiertes Manuskript, seine Berge von Notizen seit über einem halben Jahr nicht einmal mehr angeschaut.
    »Ja, wie hört sich das an? Ist alles in Ordnung, Zach?«
    »Bestens, ja … Ich …« Er verstummte. Er hatte das Buch aufgegeben – ein weiteres Projekt, das im Sande verlaufen war –, weil es sich zu einem Buch wie jedes andere entwickelte, das er je über Aubrey gelesen hatte. Er hatte etwas Neues über den Mann und sein Werk schreiben wollen, das einmalige Einblicke zeigte, vielleicht die Art Einblicke, die nur ein Verwandter, etwa ein heimlicher Enkel, zu bieten hätte. Mittendrin war ihm jedoch klar geworden, dass er keine solchen Erkenntnisse hatte. Der Text war vorhersehbar und folgte ausgetretenen Pfaden. Dass er den Künstler und sein Werk liebte, ging nur allzu deutlich daraus hervor, aber das reichte nicht. Er hatte all das gesammelte Wissen, die vielen Notizen, seine Leidenschaft für das Thema. Aber er hatte keine besondere Perspektive, keinen speziellen Blick winkel. Das sollte er David Fellows einfach sagen, und Ende. Sollte dieser andere Aubrey-Mensch doch sein Buch veröffentlichen. Schmerzlich wurde Zach bewusst, dass er wahrscheinlich den Vorschuss würde zurückzahlen müssen, so bescheiden der auch gewesen war. Er fragte sich, woher um alles in der Welt er dieses Geld nehmen sollte, und hätte beinahe laut

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