Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
gelacht.
Doch das Bild auf der Katalogseite vor ihm fesselte er neut seine Aufmerksamkeit. Dennis. Was war das für ein Ausdruck auf dem Gesicht des jungen Mannes? Er war sehr schwer zu bestimmen. Auf den ersten Blick wirkte er wehmütig, im nächsten Moment schelmisch, und dann trau rig, voller Reue. Er veränderte sich wie das Licht an einem stürmischen Tag, als hätte der Künstler ihn nicht recht einfangen, die Stimmung nicht auf Papier bannen können. Und genau das war Charles Aubreys wahre Kunst, darin lag sein Genie. Wie niemand sonst konnte er eine Emotion festhalten, eine ganze Persönlichkeit einfangen und so klar und kunstfertig porträtieren, dass seine Modelle auf dem Papier lebendig wurden. Und wenn dessen Ausdruck mehrdeutig oder zwiespältig wirkte, dann deshalb, weil die Stimmung des Modells genau so gewesen war. All die Widersprüchlichkeit war etwas, das er hatte zeichnen können. Aber das hier war anders. Ganz anders. Das hier sah aus, als hätte der Künstler die Stimmung des Modells nicht entziffern, nicht wiedergeben können. Zach erschien es schlicht unmöglich, dass Charles Aubrey ein so unvollkommenes Bild hatte schaffen können, und doch waren die Bleistiftstriche und die Schattierung selbst so gut wie eine Signatur. Aber da war zudem die Frage des Datums. Die Datierung konnte nicht stimmen.
»Ich mache es«, sagte er zu seiner eigenen Verwunderung. Vor Anspannung war seine Stimme plötzlich barsch.
»Wirklich?« David Fellows klang überrascht und nicht ganz überzeugt.
»Ja. Sie haben das Manuskript Anfang nächsten Jahres. So bald wie möglich.«
»Aha … Wunderbar. Freut mich sehr, das zu hören, Zach. Ich muss gestehen, dass ich dachte, Sie kämen damit irgendwie nicht weiter. Damals hat es sich so angehört, als seien Sie sicher, dass Sie etwas wirklich Neues zu dem Thema hätten, aber dann ist immer mehr Zeit verstrichen …«
»Ja, ich weiß. Tut mir leid. Aber ich schreibe es fertig.«
»Also schön. Wunderbar. Dann werde ich der Verlagslei tung sagen, dass mein Vertrauen in Sie absolut gerechtfertigt war«, erklärte David, und Zach hörte die leisen Bedenken, die milde Warnung sehr wohl heraus.
»Ja. War es«, sagte Zach. Seine Gedanken überschlugen sich.
»Nun, dann wende ich mich besser wieder der Arbeit zu. Und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, sollten Sie das auch tun.«
In der Stille nach dem Gespräch räusperte sich Zach, weil seine Kehle plötzlich trocken war. Er lauschte seinen rasenden Gedanken und hätte wieder beinahe laut gelacht. Wo um alles in der Welt sollte er anfangen? Es gab eine einleuchtende Antwort, nur eine einzige. Er senkte den Blick wieder auf den Katalog und suchte ganz unten auf der Seite nach der Herkunft dieser Zeichnung von Dennis. Aus einer Privatsammlung in Dorset. Wieder dieser Verkäufer ohne Na men, genau wie bei den beiden anderen. Aus dieser mysteriösen Sammlung waren nun schon drei Bilder von Dennis aufgetaucht und zwei von Mitzy. Alle in den vergangenen sechs Jahren, alle offenbar Studien für Gemälde, die nie mand je vollendet gesehen hatte. Und Zach kannte nur einen Ort in Dorset, wo er mit der Suche nach der Quelle dieser Bilder anfangen konnte. Er stand auf und ging nach oben, um zu packen.
2
In dem Bett, das früher das ihrer Mutter gewesen war und immer noch dort durchhing, wo Valentina einst gelegen hatte, wurde sie heimgesucht. Seit der Nacht, in der sie Celeste gesehen hatte, waren ihre Träume reich bevölkert, es drängten sich darin die lang Verschollenen und längst Verstorbenen. Sie warteten darauf, dass sie die Augen schloss, und dann rückten sie näher mit lautlosen Schritten, huschten aus fernen Verstecken herbei und kündigten sich nur durch den Hauch eines Dufts, ein gemurmeltes Wort oder Züge an, die typisch für sie waren. Celestes wilde Augen, Charles’ Hände voller Farbflecken, Delphines fragend hoch gezogene Augenbrauen, Élodies aufstampfender Fuß. Ihre eigene Mutter mit ihrem feurigen Atem. Und mit ihnen kamen die Gefühle. Jedes einzelne brauste wie eine Woge über sie hinweg, sodass sie kaum noch Luft bekam. Sie rissen sie immer weiter fort vom Strand, und sie hatte keinen Boden mehr unter den Füßen, konnte sich nicht ausruhen oder gar in Sicherheit bringen. Nur darum kämpfen, nicht zu ertrinken. Ein Meer erinnerter Gesichter und Stimmen wirbelte und wogte so stürmisch um sie her, dass sie mit einem Gefühl von Übelkeit aufwachte. Ihr Kopf war so voll, dass sie sich in Zeit und
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