Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Raum nicht mehr zurechtfand. Sie hatten Fragen an sie, jeder einzelne ihrer Besucher. Fragen, die nur sie beantworten konnte. Sie wollten die Wahrheit erfahren, all ihre Gründe, und sie wollten Vergeltung.
Wenn ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und sie die schwachen Umrisse des Fensters und der vertrauten Möbel ausmachen konnte, ebbte das Getöse ein wenig ab, und die Vorahnung kehrte zurück. Das Gefühl, dass jemand kam, ein Fremder, und dass dieses Fremden wegen alle, die sie verloren hatte, und alle, die sie fürchtete, zurückkommen und unsichtbar in den dunklen Winkeln des Hauses auf eine Gelegenheit lauern würden, ihre Forderungen zu stellen. Sie würden Wahrheiten verlangen, die sie jahrzehntelang geheim gehalten und vor allen versteckt hatte, manchmal sogar vor sich selbst. Ihre Forderungen würden immer lauter werden, erkannte sie nun. Panik flatterte in ihrem Bauch. Sie würden stärker werden, wenn sie keine Möglichkeit fand, sie sich vom Leib zu halten. Hellwach lag sie da, summte leise vor sich hin, damit sie sie nicht hören musste, und versuchte zu ergründen, ob derjenige, der da kam, Freund oder Feind sein würde.
Das Dörfchen Blacknowle lag in einer Senke der hügeligen Küste von Dorset, östlich von Kimmeridge und Tyneham – diesem seltsamen Geisterstädtchen, das das Kriegsministerium 1943 als Übungsgelände für die Truppen requiriert und den ursprünglichen Bewohnern nie zurückgegeben hatte. Zachs Eltern hatten es ihm gezeigt, als er noch klein gewesen war, bei einem Ausflug an einem Feiertag im Som mer. Zach erinnerte sich am deutlichsten an Lulworth Cove, weil es dort Eis gegeben hatte – oft ersehnt, aber selten gewährt – und weil die Halbmondform des Strandes so per fekt war, dass sie irgendwie unwirklich erschien, wie et was aus einem fernen Land. Er hatte sich die Taschen mit den glatt polierten weißen Kieseln gefüllt, bis das Futter geplatzt war, und er hatte geweint, als seine Mutter ihn gezwungen hatte, alle wegzuwerfen, ehe sie wieder ins Auto stiegen. Einen darfst du behalten , hatte sein Dad gesagt und seiner mürrischen Mutter einen finsteren Blick zugeworfen. Zach fragte sich, warum er damals nicht erkannt hatte, wie unglücklich die beiden waren. In Blacknowle war sein Vater mit einem erwartungsvollen Gesichtsausdruck durch die kurzen Straßen gelaufen, als sei er sicher, jeden Moment etwas zu finden, oder jemanden. Doch was immer er gesucht haben mochte, am Ende ihres Urlaubs war dieser Gesichtsausdruck einer resignierten Traurigkeit und Enttäuschung gewichen. Auf dem Gesicht seiner Mutter hatte sich Enttäuschung einer anderen Art gespiegelt.
Zach folgte einer Landstraße, die so schmal war, dass staubige Stängel von Wiesenkerbel links und rechts gegen die Außenspiegel peitschten. Auf dem Rücksitz lagen ein hastig gepackter Koffer und ein großer Karton mit allen gesammelten Notizen für sein Buch über Charles Aubrey. Es waren mehr, als er in Erinnerung gehabt hatte. Die Griffe waren beinahe abgerissen, als er die Kiste unter seinem Bett hervorgezerrt hatte. Daneben lag sein Laptop, sicher verstaut in einer eigenen Tasche, voller Bilder von Elise und voller Möglichkeiten, Verbindung zu ihr zu halten. Und das war alles, was er dabeihatte. Nein, korrigierte er sich leise seufzend. Das ist alles, was ich habe. Hinter der nächsten Kurve lag das Dorf, doch die Straße führte weiter nach Süden, wo das Land schließlich absank und im Meer verschwand. Zach widerstrebte es plötzlich anzukommen. Er hatte nur eine derart vage Vorstellung davon, was er tun sollte, wenn er erst da war, dass er sich unwohl fühlte, beinahe ein wenig ängstlich. Er beschleunigte wieder und fuhr durch das Dorf hindurch und etwa anderthalb Kilometer weiter, bis die Straße an einem kleinen, von Unkraut überwucherten Parkplatz endete. Ein Schild warnte streng vor Strömungen und dicht unter der Oberfläche liegenden Felsen, und darunter hing ein verblasster, orange-weiß gestreifter Rettungsring. Unter dem bröckeligen Klippenrand wälzte sich das graue Meer rastlos und aufgewühlt an die Küste.
Zach überlegte, was er als Nächstes tun sollte. Das Haus, das Charles Aubrey als Sommerhaus gemietet hatte, existierte definitiv nicht mehr – andere hatten schon versucht, es ausfindig zu machen. Es war irgendwann in den 1950er-Jahren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. In den Sechzigern war eine Straße gebaut worden, die südwestlich des Dorfes beinahe einen
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