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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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Strand noch auf dem Pfad hinauf zur Southern Farm. Eine Sekunde lang wurde sie von Panik erfasst, doch sie ignorierte sie und schlug den landeinwärts gelegenen Weg zum Dorf ein.
    Wilf hatte gesagt, Charles sei im Pub, also ging sie dorthin. Sie marschierte geradewegs an ein Fenster, obwohl ihr vor nervöser Erregung die Zähne aufeinanderschlugen. Ihre Zungenspitze geriet dazwischen, und sie schmeckte Blut. Im Pub war es düster, doch sie konnte erkennen, dass er beinahe leer war. Zwei Männer saßen an der Bar, aber keiner von ihnen war Charles. Sie eilte hinüber zum Dorfladen und spähte hinein, dann ging sie die beiden Sträßchen ab, die den Ortskern bildeten. Sie wusste nicht, wo sie sonst noch suchen könnte, und konnte sich nicht erklären, warum Charles nicht zu ihr gekommen war, um sie zu beruhigen. Sie war sicher, dass er irgendeinen Plan für ihre gemeinsame Zukunft hatte. Aber sie wünschte sich so sehr, Charles zu finden und es aus seinem Mund zu hören. Ihr Bedürfnis, ihn zu sehen, war so stark, dass sie davon Schmerzen hinter den Augen bekam, die immer schlimmer wurden. Auf dem steilen Pfad zur Northern Farm gab sie schließlich auf und ging zurück, über die Anhöhe auf der Rückseite des Pubs. Und da sah sie ihn.
    Er war in einem der oberen Zimmer des Pubs – sie konnte ihn durch das kleine Fenster sehen, das halb in dem verschieferten Dachvorsprung verschwand. Die Sicht war schlecht, durch die schmale Scheibe erkannte sie seinen Arm, seine Schulter, den Unterkiefer. Charles! Dimity war nicht sicher, ob sie vor Jubel laut nach ihm gerufen hatte oder doch kein Laut aus ihrer zugeschnürten Kehle gedrungen war. Sie hob beide Arme über den Kopf und winkte, doch dann hielt sie inne und ließ die Arme wieder sinken. Charles war nicht allein. Er sprach mit jemandem – sie sah, wie sich sein Mund bewegte. Und dann trat noch jemand in ihr Blickfeld, und es war diese Touristenfrau. Mit ihrem englischen Milchgesicht. Celestes Stimme war so klar und deutlich, dass Dimity verblüfft herumwirbelte. Als sie feststellte, dass sie alleine war, blickte sie wieder zum Fenster hinauf. Die Frau schien zu weinen, sie tupfte sich mit dem Ärmelbündchen ihrer Bluse die Augen. Dimity starrte sie an und versuchte, sie verschwinden zu lassen. Ein gewaltiger, bodenloser Abgrund hatte sich vor ihren Füßen aufgetan, und sie würde unweigerlich hineinstürzen. Nichts konnte sie retten. Charles ergriff die Hand der Frau und führte sie an seine Lippen, um sie lang und zärtlich zu küssen. Hast du sie zusammen gesehen?, flüsterte Celeste ihr ins Ohr, und der Schmerz in Dimitys Kopf stach unerträglich. Sie presste beide Hände an die Schläfen und wimmerte vor Qual, dann schrie sie auf und floh.
    Sie ging blindlings immer geradeaus, quer über Wiesen und Wege, zwischen den Buchen und Eichen auf der Anhöhe hindurch und auf der anderen Seite wieder hinunter. Sie durchweichte sich die Schuhe in kleinen Rinnsalen, bespritzte sich die Kleider mit rötlichem Matsch und war bald mit klebrigen Knospen, Kletten und Insektenstichen übersät. Im Gehen sammelte sie, pflückte beinahe unbewusst vertraute Pflanzen, und benutzte ihr Schultertuch als Beutel. Sauerampfer für den Salat, Brennnesseln als Tee und für Elixiere, die Nieren und Blut reinigten, Mariendistel und Edelkastanien zum Kochen, Farnkraut, das Bandwürmer abtötete, Löwenzahn gegen Rheuma, Wegwarte gegen Blasenentzündungen. Diese Arbeit war ihr vertraut und hatte einen so natürlichen Rhythmus, dass sie beinahe hypnotisierend wirkte und den Aufruhr in Dimitys Kopf zum Schweigen brachte.
    Sie kam an dem sumpfigen Graben am Waldrand vorbei, wo an einer Stelle reichlich Wasserschierling wuchs. Kuh tod wurde er auch genannt, weil er Kühe das Leben kostete, die beim Grasen versehentlich davon fraßen. Dimity hockte sich mitten zwischen die hohen, todbringenden Pflan zen und war umgeben von ihren unschuldsvoll wirkenden, schirmförmigen weißen Blütendolden. Die Wurzeln wanden sich hinab in den sandigen Grund des Grabens, und die langen, gezahnten Blätter verströmten den appetitlichen Ge ruch von Petersilie. Wasserflöhe flitzten um Dimitys Füße, und eine gebänderte Libelle schwirrte in großen Bögen über ihrem Kopf und schien ihr neugierig zuzusehen. Dimity schlang die Finger um einen holzigen Stängel und zog vorsichtig daran, damit er nicht brach. Schließlich löste sich die knollenförmige Wurzel aus dem Boden. Sie würde beinahe süßlich schmecken, wie

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