Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
schien von weit weg zu kommen. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zu der Marokkanerin auf und wunderte sich darüber, dass sie sie jemals schön gefunden hatte. Celeste war finster und grausam, eine Gestalt, die man fürchten und verabscheuen musste. Eine hartnäckige Plage, eine offene Wunde, die nicht heilen wollte.
»Hör mir gut zu. Damit ist jetzt Schluss.« Celeste seufzte unvermittelt. »Lass uns einfach in Ruhe«, sagte sie und schloss die Tür.
Dimity schwankte leicht auf den Fersen. Der Boden unter ihren Füßen verschwamm, sodass ihr schwindelig wurde, und plötzliche Übelkeit stieg ihr mit einem widerlichen, sauren Geschmack die Kehle empor. Wenn er frei wäre, wäre er mit mir zusammen. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, wie Charles sie gerettet hatte, als sie hilflos am Boden lag, kurz davor, von wüsten Männern in Fes in Stücke gerissen zu werden. Sie dachte an seinen Kuss in der Gasse, die Berührung seiner Hand, als er ihr aufgeholfen hatte, an die Blüten, die wie ein Hochzeitsbogen über ihren Köpfen hingen, als sie zusammen vor dem Meriniden-Grabmal gesessen hatten. Sie dachte an diese Wüste, wo alles so vollkommen und wunderbar gewesen war wie in einem Traum. Dimity öffnete die Augen und schaute auf Delphines Korb hinab. Sie sah Bärlauch und Petersilie, Sellerie, Liebstöckel und Wiesenkümmel. Das war eine gute Ernte, alle Blätter jung und zart, nichts darunter, was holzig oder bitter ge worden sein könnte. Und der Kümmel war ein seltener und köstlicher Fund. Delphine war eine sehr aufmerksame Schü lerin gewesen. Dimity stand lange da und starrte die Kräuter an. Dann schaute sie auf ihre eigene Sammlung in dem improvisierten Beutel hinab, der am Ende ihres tauben Arms hing. Auf einmal war er ihr zu schwer, sie legte ihn vor sich ab und beugte sich tief darüber. Bärlauch, Petersilie, Sellerie, Liebstöckel, Kümmel. Das Blut pochte in Dimitys Schläfen, schmerzhaft und beharrlich. Die grünen Blätter verschwam men ihr vor den Augen, halb verborgen hinter ihrem herabhängenden Haar. Knoblauch, Petersilie … Da war der Was serschierling, der Kuhtod, neben ihrem eigenen Berg Kräuter. Sorgsam abgesondert und fest zusammengewickelt, Blätter, Stängel und süße, dicke Wurzeln. Dimity konnte kaum mehr atmen, so unerträglich war der Schmerz hinter ihren Augen. Schließlich richtete sie sich auf und ging mit ruckartigen, unsicheren Schritten davon. Und irgendwie lag der Schierling nicht mehr in ihrem Beutel. Sondern in Delphines Korb.
10
Zwei Tage nach Ilirs Prügelei mit Ed Lynch begann Zach, seine Sachen zu packen. Ein Katalog glitt ihm aus den Fingern und fiel zu Boden. Der Binderücken war schon geknickt, weil Zach den Katalog ständig an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen hatte, und so klappte er von allein bei dem Bild von Dennis auf – dem jungen Mann, der Zach überhaupt erst nach Blacknowle geführt hatte. Dennis und Delphine, die verschwundene Tochter. Er stellte sich ihr Gesicht vor, das in seiner Galerie an der Wand hing. So viele Stunden hatte er damit verbracht, es zu betrachten und sich nach ihr zu sehnen. Eine Zeit lang war er sicher gewesen, dass er herausfinden würde, was aus ihr geworden war. Dass Dimity Hatcher es wusste und es ihm sagen würde, wenn er ihr genug Herzen brachte und Porträts ihrer selbst, die sie noch gar nicht kannte, um sie um den Finger zu wickeln. Jetzt musste er sich zwischen Charles Aubrey und Hannah Brock entscheiden, denn Hannah war irgendwie in den Betrug an dem Mann verwickelt, für den Zach eine heftige, wenn auch nebulöse Loyalität hegte. Hannah hatte ihn ausgeschlossen, ihn belogen und empfand wahrscheinlich gar nichts für ihn. Bald musste er aus Blacknowle wegfahren und wissen, wohin. Bald, aber noch nicht jetzt. Er stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus, als er sich selbst diesen Aufschub gewährte.
The Watch war still und leblos, die blinden Fenster verrieten nicht die leiseste Bewegung im Inneren. Zach blieb unter dem kleinen Fenster hoch oben in der nördlichen Wand stehen und starrte hinauf. Aus diesem Raum waren die seltsamen Geräusche gekommen. In einer Ecke war die Scheibe kaputt – da war ein kleines Loch, umgeben von einem Netz aus Sprüngen im Glas, als hätte jemand einen Stein durchs Fenster geworfen. Er konnte bleiche Vorhänge dahinter erkennen, halb geschlossen. Einer von ihnen be wegte sich leicht in der Brise, und bei der plötzlichen Bewegung zuckte Zach zusammen und duckte
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