Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Charles hat gesagt, er würde irgendwann einmal wieder mit mir hinfahren. Nächstes Jahr wahrscheinlich. Vielleicht machen wir sogar jedes Jahr dort Urlaub.« Sie lächelte vage.
»Charles? Du meinst Mr. Aubrey?« Wilf verzog das Gesicht vor Verwunderung. »Wie meinst du das, Urlaub machen?«
»Na, was glaubst du wohl?«, fauchte sie.
»Du willst doch nicht etwa sagen, dass du und er … Dass du – jetzt mit ihm zusammen bist?«
»Na und?«
»Aber er ist doppelt so alt wie du, Mitzy! Mehr als doppelt so alt. Und er hat schon eine Frau!«
»Nein, hat er nicht! Sie ist nicht seine Frau, sie sind nicht verheiratet!« Sie wandte sich ab und schaute wieder aufs Meer hinaus. »Er wird mich heiraten. Ich werde seine Frau.«
»Warum bist du dann immer noch bei deiner Ma, während er und seine Familie in Littlecombe zusammenpacken, um heim nach London zu fahren?«
»Was?« Seine Worte erschütterten sie buchstäblich – der Felsendamm schien plötzlich zu schwanken wie das Deck eines Schiffes. Etwas drückte sich in ihre Kehle empor, und einen Augenblick lang glaubte sie, sie müsse schreien. »Was?«, wiederholte sie, und statt eines Schreis kam nur ein Flüstern, das sich beinahe in der Brise verlor. »Ich habe gehört, dass er das gesagt hat. Das war vor nicht mal einer halben Stunde, als er im Pub seine Zeche bezahlt hat. Mitzy«, sagte er, trat vor und ergriff ihre Oberarme. Sie blickte auf und bemerkte erst jetzt, wie groß er geworden war, wie breit seine Schultern über den schmalen Hüften jetzt wirkten, wie viel kräftiger und entschlossener sein Kiefer. »Mitzy, hör mir zu. Er liebt dich nicht. Nicht so wie ich. Ich liebe dich, Mitzy!«
»Nein.«
»Doch, wirklich! Ich liebe dich wie kein anderer. Hei rate mich, Mitzy. Ich wäre immer gut zu dir … Wir hätten ein gutes Leben, das schwöre ich! Wir können sogar aus Blacknowle fortgehen, wenn du das unbedingt willst. Mein Onkel in Bristol hat Arbeit für mich, wann immer ich will. Bei der Reederei, in der er arbeitet. Du müsstest Blacknowle und deine Ma nie wiedersehen, wenn es das ist, was du willst. Wir könnten gleich ein Baby bekommen, wie du magst. Und wir könnten in den Flitterwochen hinfahren, wo du möchtest – nach Wales oder St. Ives, überallhin!« Er schüttelte sie sanft, und Dimity blinzelte. Doch sie war zu tief in ihrem eigenen Jammer versunken, um zu erkennen, dass er all das die ganze Zeit über geträumt hatte, so wie sie sich ein Leben mit Charles in London erträumt hatte. Dass Gedanken an sie ihn nachts wach gehalten hatten, bis seine Hand sich unter die Bettdecke stahl. Sie entzog sich ihm.
»Lass mich los!«
»Mitzy! Hast du überhaupt gehört, was ich gesagt habe?«
»Ich habe dich gehört«, antwortete sie dumpf. »Wales? St. Ives? Für so groß hältst du also die Welt? Weiter reicht deine Vorstellung nicht?« Wilf runzelte die Stirn.
»Nein. Aber weiter zu reisen kann ich mir zurzeit noch nicht leisten. Ich bin nicht dumm, Mitzy. Und ich weiß, dass du mich nicht so aufregend findest, wie dir manch andere vielleicht vorkommen. Aber das hier ist echt, kein unerreichbarer Traum. Was ich dir biete, ist ein richtiges Leben. Wir können sparen … Ich kann anfangen zu sparen und dann auch mit dir ins Ausland fahren. Die Fähre über den Ärmelkanal ist gar nicht so teuer …«
»Nein.«
»Nein?«
»Das ist meine Antwort, Wilf. Ich werde dich nicht heiraten. Ich will dich nicht.«
Wilf schwieg eine Weile. Er schob die Hände in die Taschen und war offenbar bereit zu warten – als könnte sie es sich anders überlegen, wenn er nur lang genug wartete. Schließlich seufzte er tief.
»Er wird dich nicht heiraten, Mitzy. Das kann ich dir versprechen.«
»Was weißt du schon davon? Du bist genau wie alle anderen hier! Du gaffst und schwatzt und glaubst, du wüsstest, was gut für mich ist!«, sagte sie heftig, als Zorn in ihr aufflammte.
»Ich weiß jedenfalls, dass er dich nicht heiraten wird. Er kann gar nicht. Er …«
»Halt endlich den Mund! Du weißt gar nichts! Nichts! « Ihre wild und hitzig hervorgestoßenen Worte trieben Wilf die Tränen in die Augen.
Sie wandte sich von ihm ab und verschränkte die Arme, und dann spürte sie noch lange, dass er hinter ihr stand und wartete. Sie hörte, wie er leise schniefte, sich die Nase putzte, sich räusperte. Irgendwann merkte sie dann, dass er fort war, und hätte nicht genau sagen können, wie lange schon. Sie blickte über die Schulter zurück und sah ihn weder am
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