Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
nur einen Moment lang hatte aufblitzen sehen, in einer schmalen Gasse in einer anderen Welt. Sie beschwor dieses Bild so sorgfältig, so intensiv, dass es beinahe ein Zau ber wurde. Sie stellte sich vor, wie sie mit ihm nach London ging, malte sich aus, dass Charles ihr eine Wohnung mietete oder sie in seinem Atelier wohnen ließ, als sein Modell und seine Geliebte. Vielleicht würde sie sich gar nicht so verborgen halten müssen – vielleicht würde er sie sogar heiraten und sie aller Welt als seine Frau vorstellen, ihre Hand küssen und sie mit so glühendem Blick ansehen, dass jeder seine inbrünstige Liebe und Hingabe erkennen musste. Seine Künstlerfreunde, die Dimity sich als bärtige Männer mit buschigen Augenbrauen und verrückten Gewohnheiten vorstellte, würden ihn um seine junge, schöne Frau beneiden, und er würde stolz auf sie sein, unglaublich stolz. Und die Entbehrung, in der Öffentlichkeit Anstand zu wah ren, würde nur die Leidenschaft nähren, mit der er über sie herfallen musste, sobald sie wieder allein waren. Nachts hiel ten diese Bilder sie wach vor schmerzlicher Sehnsucht und ließen ihre Hand zwischen ihre Beine schlüpfen auf der ver zweifelten Suche nach Erlösung.
Doch es war Wilf Coulson, den sie stattdessen sah. Sie sah ihn vor dem Spout Lantern, wo er jetzt mit sechzehn Jahren nach getaner Arbeit oft mit den anderen Männern trank. Er folgte ihr ein- oder zweimal, wie er es früher getan hatte – er ging ihr nach, damit sie ihn an irgendeinen geschützten Platz führte, wo sie reden konnten. Oder zu Bartons Scheune, damit sie zusammen im Stroh liegen und sich im Viehgestank berühren konnten. Doch diesmal drehte sie sich um und warf ihm einen so zornigen Blick zu, dass er verblüfft stehen blieb. Sie wollte seine linkische Zuwendung nicht, seine Geschenke, seine jungenhaften Küsse. Also kam er nach einer Weile zu ihr nach Hause, auf der Suche nach ihr, und das Klopfen an der Tür ließ sie auflodern, weil sie dachte, es könnte Charles sein. Als sie Wilf sah, machte sie ein langes Gesicht, woraufhin sein Lächeln ebenfalls erlosch.
»Gehst du ein Stück mit spazieren, Mitzy?«, fragte er, zog dabei das Kinn an die Brust und blickte finster drein.
»Ich hab zu tun«, erwiderte sie steif. Da blickte Wilf so verletzt und ärgerlich zu ihr auf, dass sie beinahe erschrak. »Also gut. Aber nur ein Stückchen.«
Sie führte ihn den steilen Pfad die Klippe hinab auf den Kiesstrand unterhalb von The Watch, immer einen Schritt vor ihm, die Hände zu Fäusten geballt. Geschickt suchte sie sich den Weg zwischen den Felsbrocken hindurch. Eine un ruhige Brise schlug ihnen entgegen, und das Meer schim merte in kräftigem Grau. Eine andere Art Wüste, die sich bis in weite Ferne erstreckte. Dimity ging schnurstracks zum Ende des Strandes, stieg auf die Felsenmauer und lief darauf weiter, bis der Wall unter der Wasseroberfläche verschwand. Sie schaute auf ihre abgetragenen Lederschuhe hinab und überlegte, einfach damit weiterzugehen.
»Mitzy, bleib stehen!«, sagte Wilf, immer noch dicht hinter ihr. Dimity blickte sich nach ihm um und sah, dass seine Augen rot waren und nass glänzten. »Was ist passiert, Mitzy? Warum willst du nichts mehr mit mir zu tun haben? Was habe ich falsch gemacht?« Er klang so bekümmert, dass Dimity leichte Gewissensbisse spürte und sich ganz zu ihm umdrehte.
»Du hast gar nichts falsch gemacht, Wilf.«
»Was ist denn dann? Sind wir überhaupt noch Freunde?«
»Natürlich«, sagte sie widerwillig. Sie würde Wilf wahrscheinlich nie wiedersehen, wenn sie mit Charles nach London ging. Kein Wilf, keine Valentina mehr. Oder vielleicht würde sie ihre Mutter hin und wieder besuchen – in einem glänzenden Automobil zu The Watch hinunter fahren, mit einem Seidentuch um den Kopf, in hochhackigen Schuhen und feinen Strümpfen mit Nähten, die schnurgerade an ihren Waden emporliefen. Wilf unterbrach ihren angenehmen Tagtraum.
»Ich habe dich vermisst, als du weg warst. Es war nicht wie sonst, ohne dich. Ich glaube, sogar deine Ma hat dich vermisst – sie musste ein paarmal ins Dorf gehen, dies und das holen. Mit einem Gesicht ist sie herumgelaufen, dass sich niemand in ihre Nähe getraut hat!« Er lächelte schwach, wurde aber ernst, als sie weiter schwieg. »Also – wie war es da, wo du hingefahren bist?« Er schien verzweifelt nach einem Thema zu suchen, einer Möglichkeit, sie zum Reden zu bringen.
»Es war der schönste Platz, an dem ich je gewesen bin.
Weitere Kostenlose Bücher