Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
warten, eingelassen zu werden. Ihr Herz flatterte wie eine Motte. Sie ging zur Tür und hielt zögerlich ein Ohr daran. So klangen alle Stimmen des Hauses lauter, verstärkt durch die Wände und das Holz wie das Meer, das in einer Muschel flüstert. Gemurmel, Vorwürfe, Lachen, die rauen Stimmen von Valentinas zahlreichen Besuchern.
»Dimity? Sind Sie da?« Die Stimme war so laut, dass sie aufschrie und von der Tür zurückwich.
»Wer ist da?«, fragte sie und merkte, dass ihr vor Angst Tränen in den Augen standen.
»Ich bin es, Zach. Ich wollte nur mal Hallo sagen.«
»Zach?«, echote Dimity und überlegte angestrengt.
»Zach Gilchrist – wissen Sie nicht mehr? Geht es Ihnen gut?« Natürlich wusste sie, wer er war. Der Mann mit den vielen Bildern, dessen Stimme sich in all die anderen Stimmen von The Watch eingereiht hatte und unablässig Fragen stellte. Ihr erster Impuls war, ihn nicht einzulassen. Sie konnte sich nicht erinnern, warum sie das nicht wollte, sie wusste nur, dass es so war. Aber er konnte nicht schlimmer sein als das schwarze Ding, das bereits hier bei ihr war, entschied sie dann. Vielleicht würde es sich ein wenig zurückziehen, wenn er hier war, und auf einen günstigeren Zeitpunkt warten. Vorsichtig öffnete Dimity die Tür.
Zach beobachtete mit Bestürzung, wie Dimity in der Küche herumhuschte unter dem Vorwand, ihnen einen Tee zu kochen. Sie zuckte und zitterte, und ihr Blick schoss immer wieder durch den Raum, als suchte sie irgendetwas. Ihre Auf merksamkeit schweifte umher wie eine Eintagsfliege, die sich nie ganz irgendwo niederließ. Dimity räumte die Becher von einer Arbeitsfläche auf die andere, kippte das Wasser aus dem Kessel in die Spüle, ehe es kochte, und setzte frisches auf. Als Zach ihr von der Prügelei im Pub erzählte, wirbelte sie mit einem leisen Aufschrei herum und schlug sich die Hand vor den Mund. Einen Moment lang dachte er, er hätte sie mit der brutalen Geschichte schockiert, doch dann sah er, dass sie an ihm vorbei auf das Küchenfenster starrte. Er drehte sich um, aber da war nichts, auch draußen nicht, nur der grüne Hügel, der zum Meer hin abfiel.
»Was ist denn, Dimity? Was ist los?«, fragte er. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und schüttelte den Kopf. Zach fiel auf, wie schnell und flach ihre Atemzüge auf einmal waren. Er stand auf, nahm sie bei den Händen und führte sie zu einem Stuhl. »Kommen Sie, bitte, setzen Sie sich. Irgendetwas hat Sie doch ganz aus der Fassung gebracht.«
»Sie lassen mich einfach nicht in Ruhe!«, rief die alte Frau aus und ließ sich auf einen der wackeligen Küchenstühle sinken.
»Wer, Dimity?«
»Sie alle …« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und holte tief Luft. »Geister. Nur Gespenster, weiter nichts. Nur die Einbildung einer alten Frau.« Sie blickte zu ihm auf und versuchte zu lächeln, aber dieses Lächeln geriet sehr zittrig und wenig überzeugend.
»Sie sehen sie, nicht wahr?«, fragte Zach vorsichtig.
»Ich … Ich weiß nicht. Ich glaube … Manchmal, ja. Sie wollen Antworten von mir, genau wie Sie.« Sie starrte ihn verzweifelt an, und Zach spürte einen gewaltigen Kummer in ihr.
»Also – ich werde Sie nicht um weitere Antworten bitten. Nicht, wenn Sie mir nichts sagen möchten«, erklärte er. Dimity schüttelte den Kopf, und Tränen tropften auf ihren Schoß.
»Ich habe sie zusammen gesehen. Ich habe es Ihnen nicht gesagt … Aber vielleicht haben Sie ein Recht darauf, das zu erfahren.«
»Wen haben Sie gesehen, Dimity?«
»Meinen Charles und Ihre – Großmutter. Sie haben sich geküsst.« Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit, und Zach überkam ein seltsames Gefühl – als würde etwas an der richtigen Stelle einrasten. Oder vielleicht auch an der falschen.
»Sie glauben also, er hätte doch mein …«
»Ich weiß es nicht!«, heulte Dimity unvermittelt. »Ich weiß es doch nicht! Aber ich habe sie zusammen gesehen und es nie jemandem gesagt. Ich habe es Charles nicht gesagt. Und Celeste auch nicht.«
»Himmel.« Zach ließ sich auf seinem Stuhl zurücksinken und versuchte das Gehörte zu verdauen. Irgendwie war er tief im Inneren doch immer davon überzeugt gewesen, dass an dieser Geschichte seiner Großmutter nichts dran war – nur ein Hirngespinst. Deshalb hatte er Dimity auch bereitwillig geglaubt, als sie eine Affäre zwischen den beiden abgestritten hatte. Jetzt war er offenbar nicht so leicht bereit, daran zu glauben, dass es sie doch gegeben hatte. »Also hat
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