Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
er Sie betrogen?«, fragte er leise. Dimity begann zu schluchzen, und Zach ergriff ihre Hände. »Es tut mir leid, Dimity. Aufrichtig leid.«
Eine Zeit lang ließ Dimity sich trösten, doch dann umklammerte sie seine Hände plötzlich fest.
»Warum sind Sie hier? Sind Sie einer von ihnen? Habe ich Sie geträumt?«, fragte sie.
»Nein, Dimity.« Zach schluckte nervös. »Sie haben mich nicht geträumt. Ich bin wirklich.«
»Warum sind Sie hier?«, wiederholte sie.
»Ich bin … Nun ja, eigentlich wollte ich mich von Ihnen verabschieden.« Das war ihm nicht bewusst gewesen, bis zu dem Moment, wo er es aussprach. Er holte tief Luft und sah Dimity fest in die Augen. »Können Sie mir noch irgendetwas – irgendetwas über diesen Sommer erzählen? Über Dennis, oder warum Charles zur Armee gegangen ist? Über das Schicksal von Delphine und Celeste?« Einen gespannten Augenblick lang hielten beide den Atem an. Sie starrten einander in die Augen, und der Moment schien sich hinzuziehen, eine unnatürlich lange Pause. Dieser Augenblick war so eingefroren, dass Zach das Ticken seiner Armband uhr nicht hören konnte oder den kochenden Kessel. Er hörte Dimitys keuchenden Atem nicht und auch nicht das Lied der See im Hintergrund. Stattdessen glaubte er einen unruhigen Wind zu hören, der durch die feuchte kleine Küche strich, einen heißen, trockenen Wind voll fremdartiger Düfte. Einen Augenblick lang war ihm, als würde er klatschende Hände und Kinderstimmen vernehmen, die einen rhythmi schen Sprechgesang anstimmten. Er glaubte, das Kratzen eines Bleistifts auf Papier zu hören und das leise, tiefe, lebenslustige Lachen eines Mannes, fesselnd und ansteckend. Dann blinzelte er, und alles war vorbei.
»Nein«, sagte Dimity, und einen Moment lang konnte Zach sich gar nicht erinnern, was er sie gefragt hatte. »Nein. Ich kann Ihnen nichts mehr sagen.« Ihre Stimme klang trostlos.
»Eine letzte Bitte habe ich noch an Sie.«
»Was denn?«
»Darf ich Sie zeichnen?«
Dasselbe Motiv zu zeichnen, das Aubrey einst skizziert hatte, war auf gewisse Weise eine weitere Pilgerfahrt. Zach bildete sich nicht ein, dass man sein Werk mit dem Aubreys würde vergleichen können, doch das schmälerte nicht die Faszination, und er fürchtete sich nicht mehr davor, es zu versuchen. Er hatte Hannah noch immer nicht gezeichnet. Jetzt fragte er sich, ob er die Gelegenheit endgültig verpasst hatte und ob es ihm überhaupt je gelungen wäre, alles einzufangen, was an ihr so wunderbar und nervenaufreibend war, von ihrem breiten Grinsen bis zu ihrer Sturköpfigkeit, von ihrer ungehemmten Sinnlichkeit bis hin zu den Barrieren, die sie zwischen sich und der Welt errichtete. Zwischen sich und ihm. Er fragte sich, ob er die irritierende Vertrautheit hätte erfassen können, die er manchmal empfand, wenn sie den Kopf in einem ganz bestimmten Winkel drehte. Gedanken an sie vermischten sich in seinem Inneren zu einem Cocktail aus Lust, Ärger, Zärtlichkeit und Frustration, also bemühte er sich, sie zu vertreiben. Er konzentrierte sich mit einem leichten Stirnrunzeln auf sein Modell und fing an.
Er arbeitete nicht schnell. Sie machten Pausen, tranken Tee und schalteten das Licht an, als es draußen dunkel wurde. Doch Dimity wirkte nicht im Mindesten ungeduldig. Im Gegenteil, unter seinem genauen Blick wurde sie still und gelassen, als sei es vollkommen natürlich für sie, ruhig ab zuwarten, während sie porträtiert wurde. Zach versuchte, den Hauch der Schönheit einzufangen, der sich in ihrem ungepflegten, gealterten Gesicht verbarg, und ihre Augen, deren Iris zwar von gräulich vergilbtem Weiß umgeben war, aber ihren warmen Haselnusston behalten hatten, genau in der Mitte zwischen Grün und Braun. Als er endlich fertig war, brannte ein Krampf in seiner Hand, und sein Nacken schmerzte. Aber als er auf seine Zeichnung hinabschaute, zeigte sie Dimity Hatcher. Ganz unverkennbar. Das beste Bild, das er seit Jahren hervorgebracht hatte.
»Würden Sie es mir zeigen?«, fragte Dimity mit einem leicht verträumten Lächeln. Sogleich schlug Zachs stille Zufriedenheit in Besorgnis um. Aber er holte tief Luft und reichte ihr das Porträt. Sie machte ein langes, bestürztes Gesicht, und ihre Hand hielt auf halbem Weg zu ihrem Mund inne und sank flatternd zurück in ihren Schoß. »Oh«, sagte sie.
»Ich weiß, es ist nicht sehr gut. Es tut mir leid – natürlich war es etwas ganz anderes, von Aubrey gezeichnet zu werden …«
»Ja«, murmelte sie leise.
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