Das verborgene Lied: Roman (German Edition)
Ich danke Ihnen, Dr. Marsh.« Charles ließ den Arm des Mannes los und hielt sich eine Hand vor die Augen.
»Aber Sie sollten wissen, dass ich gestern Abend in Black nowle war, um nach Mrs. Crawford und ihrem Magengeschwür zu sehen. Danach habe ich im Pub noch ein Glas getrunken, und man hat sich nach Ihnen erkundigt …«
»Was haben Sie den Leuten gesagt?«, fragte Charles erschrocken.
»Dass es sich anscheinend um eine Vergiftung gehandelt habe. Möglicherweise eine versehentlich verzehrte Giftpflanze. Bitte verzeihen Sie. Ich war so schockiert von den Ereignissen, dass ich mich habe hinreißen lassen. Ich hätte nicht so offen sprechen dürfen. Ich werde tun, worum Sie mich gebeten haben, aber Sie sollten damit rechnen, dass es – Gerüchte geben wird im Dorf.«
»Gerüchte können wir ignorieren. Wir werden Blacknowle ohnehin verlassen, sobald Celestes Zustand es erlaubt. Dann können sie ihre Gerüchte behalten, sie werden uns nicht mehr damit treffen.«
»So ist es wohl am besten.« Der Arzt nickte. »Mein auf richtiges Beileid zu Ihrem schrecklichen Verlust«, sagte er, schüttelte Charles die Hand und wandte sich ab. Als hätten diese Worte Charles an die Tatsachen erinnert, schwankte er und drohte zu fallen. Dimitys Instinkt übernahm die Kontrolle, und sie schoss zu ihm hinüber. Als sie ihn erreichte, gaben Charles’ Knie nach, er sackte zusammen und ruderte dabei mit den Armen, als fiele er aus großer Höhe. Nur zu gern ließ Dimity sich von ihm mit hinabziehen. Sie fiel auf die Knie, schlang die Arme um ihn und raunte tröstende Worte, während er schluchzte und schluchzte. Sie strich ihm übers Haar, wurde nass von seinen Tränen, und dies erlaubte ihrer Liebe, in ihr aufzuleuchten wie der helle Morgen – stark genug, so hoffte sie, um sie zu retten.
Wenn Dimity gefragt wurde – und man würde sie fragen –, sollte sie Darmgrippe sagen. Das schärfte Charles ihr zwei Tage später noch einmal ein, als seine Tränen einer grauenhaften, steinernen Ruhe gewichen waren, die eher einer Art wacher Ohnmacht glich, als sei er hypnotisiert worden. Er bewegte sich wie benommen, und Dimity fühlte sich alles andere als sicher in seinem Wagen. Er fuhr sie zur Abzweigung des Weges zu The Watch und setzte sie dort ab. Dimity nickte und tat, wie ihr geheißen, obwohl der einzige Mensch, der ihr Fragen stellte, Valentina war. Sie musterte ihre Tochter, schaute ihr tief in die Augen und wusste, dass sie belogen wurde. Durch den schieren Druck ihres Willens und die Macht des Gehorsams, den sie ihrer Tochter eingebläut hatte, brachte sie Dimity dazu, ihr die wahre Todesursache zu nennen. Dann neigte sie nachdenklich den Kopf zur Seite.
»Soweit ich weiß, wächst im Umkreis von fünf Kilometern um das Dorf kein Kuhtod – nicht in einem so trockenen Sommer, und die Bauern reißen ihn aus und verbrennen ihn, wenn sie doch welchen finden. Ich frage mich, wie das Mädchen wohl daran gelangt sein mag? Hm? Weißt du vielleicht, wie das passieren konnte?« Sie stieß ein hässliches, gackerndes Lachen aus, und Dimity wich vor ihr zurück, schüttelte den Kopf und sagte kein Wort mehr. Doch das war auch nicht nötig. Manchmal konnte ihre Mutter ihre Gedanken lesen, und ihr höhnisches Grinsen und ihr beinahe neidischer Respekt waren bitter wie Galle.
Am dritten Tag sah Dimity den blauen Wagen vorsichtig die Zufahrt zu Littlecombe entlangkriechen, als transportierte er etwas Kostbares und sehr Zerbrechliches. Sie folgte dem Wagen dort hinunter, eine kurze, unglückliche Prozes sion. Celeste wurde von Charles ins Haus geführt, der sie mit einem Arm um die Taille stützte und den anderen vor ihnen ausgestreckt hielt, als wollte er unsichtbare Hindernisse beiseiteschieben. In der Septembersonne sah Dimity Ce lestes verwandeltes Gesicht. Ihre Haut war grau, die Wangen wirkten hohl. Ihre Augen hatten einen entrückten, gequälten Ausdruck, und ihre Hände bewegten sich unablässig – manchmal zitterten sie nur leicht, dann wieder zuckten sie krampfhaft wie bei Wilf Coulsons Großmutter, die am Veitstanz litt. Dimity zögerte, als sie an ihr vorbei zum Haus gingen. Delphine folgte den beiden, und auch sie blickte nicht auf. Sie war blass und wirkte irgendwie älter, so, als würde sie nie wieder lächeln. Dimity sah all das und konnte nicht glauben, dass es von jetzt an immer so sein würde. Nichts ließ sich wieder in Ordnung bringen oder ändern. Nichts konnte wieder werden, wie es vorher gewesen war. Der Gedanke
Weitere Kostenlose Bücher