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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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Lufthauch über seine Wange strich. Verwundert blickte er sich um. Durch das kleine Fenster sah er den Nachthimmel als blasseres, helleres Schwarz, und er erkannte ein Loch in der Fensterscheibe, durch das die kalte Luft hereindrang. Das war das Fenster, unter dem er gestanden und sich vor den gebauschten Vorhängen erschrocken hatte. Das Zimmer auf der linken Seite, hatte Dimity gesagt. Aber Rozafa war vor ihm die Treppe hinauf gerannt, und sie konnte die Anweisung nicht verstanden ha ben. Zach wurde auf einmal eiskalt. Sie waren in dem Zimmer auf der rechten Seite. Dem Zimmer, aus dem während seiner Besuche oft leise, unerklärliche Geräusche gekommen waren.
    Zach rührte sich nicht und starrte angestrengt in die Ecken des Raumes. Doch sie blieben im Dunkeln verborgen. Er konnte gerade noch finstere, dicht gedrängte Umrisse an den Wänden ausmachen. Aber es gelang ihm nicht, Möbel oder sonst irgendetwas Vertrautes darin zu erkennen. Er bemühte sich, trotz allem weiter leise zu atmen, als könnte er durch jeden Laut irgendetwas wecken, das in diesem Zimmer schlief. Er fühlte sich beobachtet, als sei außer den kau ernden Gestalten von Rozafa und ihrem Sohn noch ein auf merksames Bewusstsein mit ihm hier im Raum. Er glaubte, etwas atmen zu hören – ein langsames, feuchtes Seufzen. Wider alle Vernunft stieg Panik in ihm auf, der verzweifelte Drang nach Licht, nach Gewissheit. Er wollte nur noch raus aus diesem Zimmer mit seinen Geheimnissen und seiner kriechenden Kälte. Sein Telefon piepste, und er zuckte zusammen. Es war eine SMS von Hannah, die glimmend vor seinen Augen erschien und jegliche Gewöhnung an die Dunkelheit zunichtemachte. Sie sind weg. Kommen zu euch. Rozafa sagte etwas, das er nicht verstand. Ihre Stimme war leise und angespannt.
    »Alles okay«, flüsterte er. »Sie kommen her und holen Sie ab.« Am Schweigen der Frau erkannte er, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Im schwachen Schimmer seines Handydisplays sah er ihre Augen über hervorstehenden Wangenknochen leuchten. Sie starrte ihn frustriert an und platzte dann heraus: »Vous parlez français?« Ihr Akzent war seltsam, doch zu Zachs Überraschung verstand er sie tatsächlich, und er kramte in seinem verstaubten Schulfranzösisch nach den Worten für eine Antwort.
    »Hannah et Ilir sont ici bientôt. Tout est bien.« Alles ist gut. Diese Worte hatten eine deutliche Wirkung auf Rozafa. Sie sank erleichtert an die Wand, legte eine Hand auf seinen Unterarm und schloss die Augen.
    »Merci« , sagte sie so leise, dass Zach sie kaum hörte. Er nickte und wünschte, er könnte sich besser ausdrücken und sie fragen, wie es Bekim ging und ob er irgendetwas für den matten, grauen kleinen Jungen tun konnte.
    Steif stand er auf und war froh, dass Rozafa ihm die tiefe, irrationale Angst nicht ansehen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen tastete er blind mit gespreizten Fingern die Wand nach einem Lichtschalter ab. Der Putz war weich und ein wenig feucht. Er rieb sich leicht ab, wie feiner Puder an den Fingern. Zach konnte den Schalter nicht finden, und er schämte sich zwar dafür, wagte es aber nicht, sich mehr als einen Schritt von Rozafa zu entfernen. Dann streifte etwas seine Wange, und er stieß einen lauten Schrei aus. Rozafa sprang mit einem Schreckenslaut auf, und Zach tastete hektisch nach dem Ding, das ihn berührt hatte. Es war der Lichtschalter – ein altmodischer Zugschalter mit einem hölzernen Knebel. Er zog kräftig daran, und über ihm ging das Licht an, eine einzelne Glühbirne, doch sie leuchtete so hell, dass er vorübergehend geblendet war. Mit tränenden, zusammengekniffenen Augen spähte Zach um sich. Langsam trat die Umgebung deutlicher hervor, und er erkannte, was die vielen dunklen Umrisse wirklich wa ren. Vor Schock blieb ihm der Mund offen stehen. Er war so fassungslos, dass er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war.
    Als der Wagen vor dem Krankenhaus in Dorchester hielt, wand Dimity sich mühsam hinaus, Élodie auf den Armen, die sich knochenlos anfühlten, als gehörten sie nicht mehr zu ihr. Das rote Backsteingebäude, erbaut zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, war riesig, mit Türmen und Zinnen, höher sogar als der Kirchturm von Blacknowle. Dimity fühlte es über ihnen aufragen, als sie Charles nacheilte. Sie spürte die zahllosen Fenster, die sie beobachteten und sofort erkannt hatten, was das Etwas in ihren Armen wirklich war. Was sie getan hatte. Dimity stolperte. Ihre Knie gaben nach, und einen Moment

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