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Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Das verborgene Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das verborgene Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Webb
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Boden neben ihr konnte Delphine sich nur noch zusammenkauern, ein Bild des größten Jammers, und die Arme fest um die Knie schlingen. Charles rührte sich nicht und sagte kein Wort. Er hatte nichts mehr zu geben. Dimity stürzte ins Bodenlose. Sie stürzte zu schnell für jeden klaren Gedanken, für jedes Wort, und zu ihren Füßen breitete sich eine Pfütze Urin auf dem Boden aus.
    Delphine wurde am Ende der Woche, einen Tag nach der Beerdigung ihrer Schwester, wieder zur Schule geschickt. Sie ging stumm und still, als hätte sie jegliches Recht auf eine eigene Meinung und einen eigenen Willen verloren. Dimity stand daneben, als Charles ihren großen Reisekoffer hinten in den Wagen hob. Celeste kam aus dem Haus, mit dem vorsichtigen, trippelnden Gang, den sie sich seit der Vergiftung angewöhnt hatte, als traue sie ihren Füßen nicht recht. Sie war in ein loses Gewand gehüllt, einen ihrer leichten Kaftane, doch nun hing er sackartig an ihr herunter. Sie machte sich nicht die Mühe, eine Schärpe um ihre Taille zu wickeln, sich zu frisieren oder Schmuck anzulegen. Ihre Haut wirkte immer noch fahl, die Augen waren stets rot gerändert. Dieses Geschöpf wirkte wie ein Geist, ganz so, als sei Celeste zusammen mit Élodie gestorben. Sie stand reglos da, als Delphine sie auf die Wange küsste und vorsichtig umarmte, und sie erwiderte keine dieser liebevollen Gesten. Charles beobachtete diese quälende Szene mit bekümmerter Miene.
    »Auf Wiedersehen, Mitzy«, sagte Delphine zu Dimity und drückte eine Wange an ihre, die so kalt und weiß wie Marmor war. »Ich bin froh … Ich bin froh, dass du da bist. Und dich um sie kümmerst. Ich wünschte …« Doch sie sagte nicht, was sie sich wünschte. Sie schluckte, und dann leuchteten ihre Augen begierig auf. »Kommst du mich besuchen? In der Schule? Ich könnte es nicht ertragen, wenn gar niemand kommt.« Ihre Stimme klang schrill und über spannt vor Verzweiflung. »Du kommst doch? Ich könnte dir das Geld für den Zug schicken.« Ihre Finger schlossen sich fest um Dimitys Arm.
    »Ich … Ich werde es versuchen«, sagte Dimity. Es fiel ihr schwer, mit Delphine zu sprechen, sie anzusehen. Denn dann war es beinahe unmöglich, ihren Körper und ihren Geist zusammenzuhalten.
    »Oh, danke! Ich danke dir«, flüsterte Delphine und umarmte sie fest. Dann stieg sie in den Wagen, mit gesenktem Blick und hängenden Schultern. »Celeste kann Delphine nicht verzeihen, was passiert ist«, erklärte Charles Dimity später, als Celeste schlief. »Obwohl sie weiß, dass Delphine das nicht mit Absicht getan hat, kann sie ihr einfach nicht verzeihen. Élodie war das Nesthäkchen, in mancher Hinsicht noch ihr Baby, verstehst du? Und sie war Celeste so ähnlich. So ähnlich. Meine kleine Élodie.« Dimity machte ihm eine Pastete zum Abendessen, und er schien nicht zu bemerken, dass sie immer da war, wo sie gar nicht hingehörte.
    Nachts träumte Dimity finstere Träume, und jeden Morgen nach dem Aufwachen blieb sie still im Bett sitzen und wartete, bis sie verflogen waren. Doch was blieb, die Wirklichkeit, war viel schlimmer als ihre Albträume, und daraus gab es kein Entrinnen. Sorgfältig verbannte sie jeden Gedanken aus ihrem Kopf, ehe sie aufstand, denn ohne leeren Kopf konnte sie nicht einmal atmen, geschweige denn gehen, sprechen, kochen oder sich um Charles kümmern. Sie träumte von riesigen schwarzen Augen und dem Gestank nach Erbrochenem. Von herausgeschnittenen Herzen auf dem Boden, aus denen Blut auf die Dielen sickerte. Sie träumte davon, dass Élodie zurückkehrte, zu ihr kam, mit dem Finger auf sie zeigte und schrie: Du du du! Sie träumte von gezeichneten Gesichtern und Delphines stillem Zusammenbruch und davon, wie sie alle einen Teil von sich verloren hatten. Sogar ein Teil von Charles fehlte. Alles war falsch gelaufen. Tags zuvor hätte sie das beinahe laut her ausgeschrien, nachdem sie ihm eine halbe Stunde lang dabei zugesehen hatte, wie er mit unendlich trauriger Miene Zeichnungen seiner Töchter durchblätterte. Alles war falsch gelaufen. Sie hatte ihn befreien wollen – damit er sie lieben, mit ihr zusammen sein und sie von hier fortbringen konnte. Doch stattdessen waren Charles’ Fesseln noch enger als zuvor. Nur indem sie ihren Kopf sorgfältig leer hielt, schaffte Dimity es, solche Dinge nicht herauszuschreien. Solche Wahrheiten. Nur indem sie ihren Kopf leer hielt, schlug sie nicht auf dem Boden des Abgrunds auf, um dort wie Glas zu zersplittern.
    Der Herbst kam

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